Essen. Auf einer Info-Veranstaltung wurden erste Zahlen über die Folgen der Autoverdrängung bekannt. Empört sind vor allem Anwohner von Nebenstraßen.

Gegen die neue Verkehrsführung auf der Rüttenscheider Straße ist eine weitere Gerichtsklage anhängig. Das berichtete Oberbürgermeister Thomas Kufen am Montag (16.12.) auf einer gut besuchten Informationsveranstaltung. Die Stadt sei vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen aufgefordert worden, bis Freitag (20.12) im Rahmen des Eilverfahrens zu den Klagepunkten Stellung zu nehmen, so der OB.

Nach der erfolgreichen Klage des Unternehmens ifm electronic gegen den Abbiegezwang am Ende der Huyssenallee, lässt damit der zweite Anlieger die so genannten „Verkehrsoptimierungen“ vor Gericht überprüfen. Nach Informationen dieser Redaktion handelt es sich beim Kläger um den Inhaber eines Einzelhandelsgeschäfts im zentralen Bereich der Rü zwischen Rüttenscheider Stern und Martinstraße.

Die Klage richtet sich gegen die Abbiegezwänge am Stern und den Abbiegezwang an der Christophstraße. Letzteres war nicht Teil des Stadtratsbeschlusses, sondern wurde von der Stadtverwaltung zusätzlich in den Maßnahmenkatalog aufgenommen, um auf der Rü in Fahrtrichtung Süden den Autoverkehr stärker zu begrenzen.

Laut ersten Zahlen zeigt die Autoverdrängungspolitik durchaus Wirkung

Der Abbiegezwang von der Rü in die Christophstraße (Einbahnstraße rechts) wurde auch an den Zählungstagen besonders häufig von Autofahrern ignoriert. Teils wohl absichtlich, teils aus Unkenntnis oder alter Gewohnheit.
Der Abbiegezwang von der Rü in die Christophstraße (Einbahnstraße rechts) wurde auch an den Zählungstagen besonders häufig von Autofahrern ignoriert. Teils wohl absichtlich, teils aus Unkenntnis oder alter Gewohnheit. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Ansonsten waren die Folgen der Autoverdrängungspolitik Thema der Informationsveranstaltung. Nach ersten Zählungen des Dortmunder Büros „Planersocietät“, das die Stadt Essen in Sachen Neuordnung des Rü-Verkehrs maßgeblich berät, zeige die Autoverdrängung durchaus Wirkung. Verwundern kann dies nicht, da es sich ja eben um einen Zwang handelt.

In den vier Stunden zwischen 6 und 10 Uhr morgens am 28. November seien an der Kreuzung Rüttenscheider Straße/Zweigertstraße/Klarastraße von rund 500 Fahrzeugen nur 46 Richtung Süden auf der Rüttenscheider Straße gefahren, berichtete Planersocietät-Teamleiter Christian Bexen. Eigentlich hätten es sogar Null sein müssen, denn die 46 waren regelwidrig unterwegs.

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Bei einer Zählung im Jahr 2022 waren von rund 700 Autos noch die Hälfte geradeaus gefahren und die andere Hälfte abgebogen. Hingegen waren am 28. November rund 450 Autofahrer, also über 90 Prozent rechts oder links abgebogen, was den Regelen entspricht. Die spannende Frage ist nun, ob eine nennenswerte Zahl dieser Abbieger dann auf anderen Wegen auf die Rü gelangte, was nicht direkt ermittelt wurde.

Starker Verkehr auf der Dorotheenstraße und anderen Wohnstraßen

Einen Hinweis bietet aber vielleicht eine weitere Zählung zur gleichen Zeit an der Einmündung Dorotheenstraße/Rüttenscheider Straße. Dort bogen 113 Autofahrer nach links auf die Rü ab - und fuhren dann wieder dort, wo sie möglicherweise immer wollten, jedoch auf direktem Wege nicht hinkamen.

Die Beschwerden von Anwohnern der Nebenstraßen, die den Informationsabend in weiten Teilen beherrschten, könnten ebenfalls darauf hindeuten, dass nun viele Autofahrer Umwege durch die Wohngebiete in Kauf nehmen, um ihre Ziele auf der Rü zu erreichen. Anwohner der Dorotheenstraße, der Christophstraße und der Ursulastraße meldeten sich mit Augenzeugenberichten zu Wort, wonach die Belastung klar angestiegen sei.

Lieferverkehr vor allem für Gastronomien ist auf der Rüttenscheider Straße immer wieder ein Ärgernis. Doch wo sollen die Fahrer sonst ausladen als am Straßenrand?
Lieferverkehr vor allem für Gastronomien ist auf der Rüttenscheider Straße immer wieder ein Ärgernis. Doch wo sollen die Fahrer sonst ausladen als am Straßenrand? © F.S. | F.S.

Verkehrsplaner Christian Blexen zog besonders drastische Schilderungen in Zweifel, hatte andererseits kaum Detailzahlen dabei, um sie stichhaltig zu widerlegen. Verkehrszählungen seien kompliziert, auch seien erst sechs Wochen nach Umsetzung der Maßnahmen vergangen, sodass Autofahrer sich teils noch in der Eingewöhnungszeit befänden.

Fakt ist aber, dass durch die Dorotheenstraße fahren muss, wer auf der westlichen Seite der Rü die Längsparkplätze nutzen will. Diese sind ansonsten nur durch gefährliche Wendemanöver zu erreichen, die nicht gewünscht sind, betonte Marius Fliegner, Leiter des Amtes für Straßen und Verkehr.

Zur Sprache kam auch das leidige Thema Lieferverkehr

Zur Sprache kam auch das Thema Lieferverkehr, für einige der Hauptgrund für die Überlastungsprobleme auf der Rü. 600 Firmen gibt es entlang der Straße, darunter 100 Gastronomien. Letztere werden mitunter mehrfach am Tag beliefert. Zurzeit denkt die Stadt daran, mit Lieferzonen zu verhindern, dass die Lkws die Straße blockieren.

Doch kann das funktionieren? Weil die Lieferanten begreiflicherweise nicht lange Strecken zu Fuß gehen können und wollen, müsste es alle 50 Meter eine solche Zone geben, sonst würden diese nicht angenommen, erklärte die Planersocietät. Das erscheint vollkommen unrealistisch.

Eine weitere Klage vor dem Verwaltungsgericht gibt es unter anderem zu den Abbiegezwängen am Rüttenscheider Stern.
Eine weitere Klage vor dem Verwaltungsgericht gibt es unter anderem zu den Abbiegezwängen am Rüttenscheider Stern. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Ansonsten gab es bei der Informationsveranstaltung die altbekannten, vereinzelt auch wütenden Kontroversen. Während Anwohner und vereinzelt anwesende Einzelhändler die Autoverdrängung als schlecht durchdacht und fehlerhaft im Detail kritisierten, ging sie Mitgliedern von Fahrradverbänden und anderen Freunden des möglichst autoarmen Verkehrs nicht weit genug. OB Thomas Kufen hatte gleich zu Beginn den Kompromisscharakter der Planung betont. „Ich kenne eigentlich keine Gruppe, die im Moment zufrieden wäre“, so Kufen. Man könne dies auch positiv sehen.

Verkehrspolitische Bekenntnisse eines Polizeibeamten

Unzufrieden ist auch Andreas Malberger, Leiter des Verkehrsdezernats 1 der Essener Polizei, der sich öffentlich mit Verkehrspolitik zu profilieren suchte. Er hätte es bevorzugt, wenn die Stadt eine „konsequentere Lösung“ umgesetzt hätte, schließlich gehe es um eine Verkehrswende, und Autofahrer hätten nicht mehr das Recht, „auf dem schnellsten Weg von A nach B zu kommen“, befand der Beamte.

Beim Unfallgeschehen, der polizeilichen Kernkompetenz, vermochte Malberger aber nichts Schlechtes über die Rü zu sagen. „Kein Unfallschwerpunkt“, räumte er ein, und das trotz aller Belastungen. Wer mag, konnte dies als gutes Zeichen werten.

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