Essen.. Cilli Hagedorn feierte Geburtstag und blickte zurück auf Zeiten als Tänzerin bei Olympischen Spielen und als Essener Kneipenbesitzerin.

Cäcilie Hagedorn-Benzler war doch überrascht: „Ich wusste gar nicht, wie viele mich noch kennen.“ Ihren 100. Geburtstag habe sie kürzlich bewusst „flach gehalten“ und nur im Kreise enger Freunde, aus Berlin, Essen, Grömitz und Florida, und ihrer Awo-Theatergruppe „Die Herbstzeitlosen“ gefeiert, die sie von 2005 bis zur Pandemie verstärkt hatte. Die Gäste hätten sich gefragt: „Wieso ist die Cilli noch so gut drauf?“ Ihr Rezept: „Es hieß immer, keine Feier ohne Tüte und Cilli. Was haben wir gefeiert. Auf Deubel komm raus. Aber ich habe nie geraucht und eine Trinkerin bin ich auch nicht.“ Ihre Gesundheit sei recht gut und der Kopf noch wach: „Manchmal viel zu wach.“

Die laut Zeitungsartikel „südlich temperamentvolle“ Cilli, damals noch Mosler, im Berliner Tanzrestaurant „Greifi“ mit Otti Fuhrmann am Flügel und dem „Trio d’ Italia“ mit Sänger Dino.
Die laut Zeitungsartikel „südlich temperamentvolle“ Cilli, damals noch Mosler, im Berliner Tanzrestaurant „Greifi“ mit Otti Fuhrmann am Flügel und dem „Trio d’ Italia“ mit Sänger Dino. © Repro: Henschke

Im Gespräch galoppiert die Hundertjährige durch ihr extraordinäres Leben, kramt Anekdoten hervor und ist ganz in ihrem Element. Früher waren es die großen und kleinen Bühnen. Und einmal die ganz große. Sie tanzte nämlich bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936. Kurz zuvor war die Familie aus Oberschlesien nach Berlin gezogen: „Mein Vater war Beamter. Steuersekretär.“ Sie muss kichern: „Und das bei meinem Lebensstil. Ich habe immer Geld verdient, es aber auch gerne ausgeben.“

Mit 95 Jahren wirbelte Cilli Hagedorn durch TV-Shows wie „X-Factor“ oder „The Voice Senior“

1942 erhielt sie ihren ersten Arbeitsvertrag. Und zwar als Nummerngirl im Kabarett Alt-Bayern an der Berliner Friedrichstraße: „Seitdem bin ich berufsmäßige Tingeleuse.“ Die nie um einen kessen Spruch verlegene Frau wurde professionelle Revuekünstlerin, trat beim Frontheater auf, tourte nach Ende des Krieges fünf Jahre lang kreuz und quer durch Italien, trat im Vorprogramm der Marlene Dietrich auf. Mehr als ein halbes Jahrhundert später wirbelte sie durch TV-Shows wie „X-Factor“ oder „The Voice Senior“.  

Vor einem Jahr bekam sie eine neue Herzklappe: „Ich war noch nicht bereit, zu gehen.“ Nun zermartert sie sich das Hirn, welches Schmankerl aus ihrem Leben noch nicht öffentlich bekannt sein könnte: „Wer weiß schon, dass ich 1955 bei der Berliner Cocktail-Amateur-Meisterschaft gewonnen habe?“ Ihre Kreation nannte sich „Cilly’s Blues“. Mit Cointreau, Whisky, Sekt, Orangenscheibe und Zitronenschale. Warum der schwermütige Titel? „Na, weil man traurig war, wenn man keinen zweiten bekam.“

Sie feiern gemeinsam: Inge Gritzan von den „Herbstzeitlosen“ im Schornsteinfegerinnen-Look (l.), Awo-Chef Oliver Kern (2.v.l.), Geburtstagskind Cilli Hagedorn (Mitte), Rolf Stoika (Leiter der Awo-Theatergruppe, 2.v.r.) und Simon Grundmann (Vorsitzender der AWO Margarethenhöhe, r.).
Sie feiern gemeinsam: Inge Gritzan von den „Herbstzeitlosen“ im Schornsteinfegerinnen-Look (l.), Awo-Chef Oliver Kern (2.v.l.), Geburtstagskind Cilli Hagedorn (Mitte), Rolf Stoika (Leiter der Awo-Theatergruppe, 2.v.r.) und Simon Grundmann (Vorsitzender der AWO Margarethenhöhe, r.). © Awo Essen

Fotos aus diesen Tagen zeigen die bildschöne Frau umschwirrt von Männern. Doch ihr Herz verlor sie an Günther „Tüte“ Hagedorn, sie heirateten und Sohn Andreas wurde geboren. Der politische Karikaturist arbeitete für Berliner Zeitungen und wurde von Jens Feddersen abgeworben: „Der Jens war Chefredakteur bei der NRZ und wollte den Tüte unbedingt. Wir hatten in Berlin im Le Corbusier-Haus gewohnt, im achten Stockwerk. Mit unendlich langen Fluren, in denen man herrlich schliddern konnte. Nun zeigte uns NRZ-Verleger Dietrich Oppenberg eine Wohnung im Hochhaus an der Gruga. Ich wollte aber lieber ins Grüne.“ Da bleibe wohl nur die Margarethenhöhe, meinte der Verleger achselzuckend, und Tüte seufzte nur: „Dett ist ein Dorf.“

In Essen war sie zunächst nur „die Frau von“. Als aber ihr vorheriges Berufsleben durchsickerte, drängelten Bekannte: „Du musst unbedingt eine Kneipe aufmachen.“ Der Stauder-Vertreter präsentierte ihr „Zur Kupferkanne“ an der Rüttenscheider Straße. Eine Rentnerkneipe: „Aber ich wollte was ganz anderes. Einen Ort zum Reden, zum Diskutieren. Wie die Salons früher. Ich wollte auch erst um 19 Uhr öffnen. Da haben die Essener Augen gemacht.“ Das legendäre „Cilli‘s Milljöh“ war geboren. Mit den Gesprächssofas „Tante Guste“ und „Onkel Otto“ und Berliner Küche: „Buletten und so…“

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Künstler waren Stammgäste, aber auch viele Journalisten. Die funktionierten das „Milljöh“ 1971 kurzerhand in ihr Pressezentrum um, als Theo Albrecht entführt wurde: „Es gab Erbsensuppe. Ich bin gar nicht mehr zur Besinnung gekommen.“ Als sie Jahre später die Sperrstunde missachtete, gab’s Ärger mit der Polizei: „Die wollten meine Personalien wissen. Dabei stand mein Name doch groß draußen dran. Mein Geburtsdatum wollte ich als Dame auch nicht nennen.“ Mag sein, dass sie noch ein wenig gefrotzelt habe. Wegen „Verunglimpfung oder so“ sei sie vorgeladen worden: „Die Jungs von der Bildzeitung haben das spitzgekriegt und eine Story draus gemacht. Die Frau, die ihr Alter nicht verraten wollte.“

Es wurde Zeit für Abschiede. Ihr geliebter Tüte starb und das Milljöh schloss 1982. Cilli Hagedorn verließ Essen in Richtung Grömitz. Ihr zweiter Mann Hans Benzler sei ein ganz anderer Typ gewesen als Günther Hagedorn: „Tüte war Künstler und brannte an beiden Enden. Der Hans war ein richtiger Gentleman. Das war eine wunderschöne Zeit.“ Als er 1998 starb, zog sie zurück auf die Margarethenhöhe.

Cilli Hagedorn präsentiert zwei Herren ihren preisgekrönten Cocktail „Cilly’s Blues“.
Cilli Hagedorn präsentiert zwei Herren ihren preisgekrönten Cocktail „Cilly’s Blues“. © Repro: Henschke

„Die Herbstzeitlosen“ sind ein Awo-Theaterensemble, das regelmäßig Musik-Shows auf die Bühne bringt, zumeist in Senioreneinrichtungen. Natürlich ließ man es sich nicht nehmen, Cilli zu feiern. Mit ihrem langjährigen Duo-Partner Jimmy Stöckius von der Band „Starfighters“ an der Ukulele gab es einige Geburtstags-Ständchen. Das Herzstück der Veranstaltung war aber Cilli Hagedorn selbst, welche die Gäste mit Mut machenden Anekdoten aus ihrer Lebensgeschichte zu unterhalten wusste und einen selbstgedichteten Rap vortrug: „Ich habe gelebt, geliebt, gelitten und genossen. Natürlich so manchen Bock geschossen.“

Gibt es noch Pläne für eine Hundertjährige? Na klar! Zum Beispiel eine Ausstellung mit Werken von „Tüte“ Hagedorn, der am 28. April 2025 hundert Jahre geworden wäre? Auch plant Cäcilie Hagedorn-Benzler ihre Memoiren: „Ich möchte so gerne noch ein Buch schreiben.“ Der Titel könne „Was kann jetzt noch kommen?“ lauten. Dafür suche sie noch jemanden, der ihr helfe. Schwierig könne das ja nicht sein: „Mehr oder minder rede ich druckreif.“ Stimmt.

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