Essen. „Freiheit in der Ferne“: In der Alten Synagoge Essen kommen jüdische „Kontingentflüchtlinge“ zu Wort. Ein neuer Freundeskreis unterstützt die Projekte
Als die Familie von Marina Evel vor 27 Jahren Jahren in Nikolajew, einer kleinen Stadt in der Nähe von Odessa, aufgebrochen ist, da musste das gesamte Leben in wenige Koffer und Kisten passen. Es war ein Neuanfang mit wenigen Habseligkeiten, Erinnerungsstücken und den Brocken Schuldeutsch, die die damals 17-Jährige im Auffanglager Unna-Massen sofort einsetzen musste. „Auf einmal musste ich ganz schnell erwachsen sein“, erinnert sich Marina Evel heute an die erste Zeit in Deutschland. Ihre Eltern, Bruder und Schwägerin gehörten damals zu den sogenannten jüdischen „Kontingentflüchtlingen“, die die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion aus Angst vor Verfolgung verließen, um in Deutschland Freiheit und Sicherheit zu finden.
Von ihren Sorgen und Ängsten, ihren Hoffnungen und dem Umgang mit ihren jüdischen Wurzeln erzählt nun eine Ausstellung „Freiheit in der Ferne - Die Koffer sind ausgepackt“ in der Alten Synagoge Essen, die damit ein gesellschaftlich und wissenschaftlich bislang wenig beleuchtetes Kapitel jüdischen Lebens als Teil der deutschen Geschichte aufschlägt.
Zum Start der Ausstellung, die im Rahmen des Wissenschaftsjahres 2024 mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zustande kam, hat sich auch der neu gegründete Freundeskreis Alte Synagoge erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Gruppierung zählt bereits mehr als 200 Unterstützer und will die Arbeit und Außenwirkung der Alten Synagoge in den kommenden Jahren weiter stärken.
„In einer Zeit von zunehmendem Antisemitismus und der verbreiteten Angst vor dem Fremden wollen wir mit der Alten Synagoge einen Ort unterstützen, der zum einen seiner Geschichte und Aufgabe gemäß jüdisches Leben und seine Kultur vorstellt, zum anderen aber auch den Menschen der Stadt eine Begegnungsstätte und und einen Ort des Dialogs bietet“, sagt Wolfgang Weber, einer der Initiatoren des Freundeskreises, zu dem Menschen aus Kultur, Politik und Gesellschaft gefunden haben, wie die Essener Medizinerin Anne Rauhut. Ihre Mutter hat dereinst gegenüber der Alten Synagoge gelebt. Deren Erinnerungen an die Pogromnacht „gehörten zu meinen ersten Kindheitserzählungen“, so Rauhut.
Alte Synagoge: Dauerausstellung soll neu gestaltet werden
Für den Essener Norbert Fabisch gehört das Bild der ausgebrannten Synagoge zu den prägnantesten Zeitzeugnissen der Nazi-Schreckensherrschaft, das er in der aktuellen Dauerausstellung allerdings vermisse. Vieles, was an die Folgen des Novemberpogroms oder an die Geschichte der stolzen jüdischen Gemeinde Essens erinnere, sei zugunsten von eher allgemeineren Kapiteln wie dem jüdischen „Way of Life“ an den Rand geschoben worden, hat Fabisch unlängst in einem Brief an Oberbürgermeister Thomas Kufen moniert. Der stellt in einem Schreiben eine Neuausrichtung in Aussicht. Die derzeitige Gesamtkonzeption, Ausstattung und Ästhetik sei „tatsächlich nicht mehr zeitgemäß“. Ziel der Stadt Essen sei es, „spätestens 2028 eine neue Dauerausstellung eröffnen zu können, die modernen Prinzipien der Darstellung und Vermittlung Rechnung trägt“. Bei der Neuausrichtung dürfte es auch um die Frage gehen, wie das von Fabisch thematisierte „Verhältnis von aktueller jüdischer Kultur und historischem Erinnern“ künftig ausfällt.
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Bis zur Neupräsentation dürften eine Reihe von temporären Ausstellungen zeigen, wie man die historische Erinnerung an die Shoah in die Gegenwart überträgt und auch mit aktuellen Fragestellungen verknüpfen kann. Dazu gehört beispielsweise ab März 2025 die Ausstellung „Green Jews“ über Umweltschutz und Judentum oder die eben angelaufene Schau zur „Freiheit in der Ferne - Die Koffer sind ausgepackt“.
Mit der multimedialen Schau geht die Alte Synagoge neue Wege. Neben Fotografie, Malerei und Installation sorgen die auf großen Monitoren eingeblendeten Interviews mit Menschen wie Marina Evel für eine sehr persönliche und vielfältige Sicht auf das Leben und das Schicksal jüdischer Mitbürger, die zur Ausstellungseröffnung aus ganz NRW angereist waren.
Angesichts eines wieder erstarkenden Antisemitismus und „in einer Zeit, in der die Beschäftigung mit Flucht und Migration aktueller denn je ist“, wolle man das Thema nicht nur im historischen Kontexten behandeln, sondern in die Gegenwart blicken“, sagt Benjamin Weber vom Gemeinnützigen Forschungsinstitut für Didaktik und XR in Dortmund als wissenschaftlicher Leiter des Projekts.
„Wir möchten nicht gejagt werden. Nicht schon wieder“
Weber hat die Ausstellung zusammen mit der jüdischen Künstlerin und Illustratorin Era Freidzon konzipiert, die 1992 mit ihrer Familie aus dem Gebiet der heutigen Republik Moldau geflohen ist. „Wir wollen zeigen, dass wir hier sind. Wir sind Teil dieser Gesellschaft und wollen genauso betrachtet werden. Wir möchten nicht gejagt werden. Nicht schon wieder. Ich möchte, dass der Koffer im Keller steht und nicht wieder unter dem Bett“, sagt Era Freidzon.
„Sie mussten eine harte Wahl treffen“, weiß Diana Matut, Leiterin der Alten Synagoge. Für manchen habe die Flucht und der Neuanfang in Deutschland vor 30 Jahren „auch eine Entwertung des bisherigen Lebens bedeutet“, so Matut. „Viele von Ihnen haben es für die Kinder getan.“ Der Zuzug der Kontingentflüchtlinge habe dabei auch in Deutschland einiges verändert. Dass in vielen jüdischen Gemeinden heute wieder ein reges religiöses Leben herrsche, „haben wir Ihnen zu verdanken“, so Matut.
Die jüdischen Gemeinden wurden damals für viele Zugewanderte aus den osteuropäischen Ländern eine wichtige Anlaufstelle, obschon das aktive Ausüben der Religion in den damaligen Sowjetunion untersagt war und viele der sogenannten Kontingentflüchtlinge erst in der Fremde zu ihren jüdischen Wurzel fanden. Marina Evel war in der jüdischen Kultusgemeinde ihrer neuen Heimatstadt Dortmund vom ersten Tag an aktiv. Heute arbeitet die Mutter und studierte Wirtschaftsmathematikerin als Verwaltungsleiterin in der Gemeinde und leitet dort die Tanzgruppe „Harimon“, die sich bundesweit auf Bühnen und auf Festivals präsentiert, um die jüdische Kultur lebendig zu halten.
„Wir wollen das Thema weiter erforschen und vertiefen“, betont auch Benjamin Weber. Geplant sind unter anderem Workshops für Jugendliche und eine speziell entwickelte App . Die Ausstellung „Freiheit in der Ferne“ ist bis zum 28. Februar 2025 in der Alten Synagoge in Essen zu sehen. Danach wird sie durch weitere Städte im Ruhrgebiet touren.
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