Essen. Vom Lehrer bis zur Rentnerin: Nicht nur Freaks legen sich beim ersten Tattoo-Weekend in der Essener Weststadthalle unter die Nadel.
Zum ersten Mal ist das Tattoo-Weekend zu Gast in Essen: An zwei Tagen präsentieren sich rund 30 Tätowiererinnen und Tätowierer in der Weststadthalle. Veranstalter ist das Team von Tattoo Event Booking aus Münster, das ähnliche Conventions bereits in anderen deutschen Städten organisiert hat. Das Publikum in Essen ist bunt gemischt: vom stylisch gekleideten Tattoo-Model über den nahezu komplett tätowierten Studiomitarbeiter bis zur Rentnerin, die sich ihr erstes kleines Schmetterlings-Tattoo auf den Arm stechen lässt.
„Meine Tochter hat mich überredet“, berichtet Angelika Girgos aus Dinslaken und schaut dabei ein bisschen skeptisch. Für die 64-Jährige ist es eine Premiere. Von schmerzverzerrtem Gesicht keine Spur. „Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt“, sagt die Rentnerin, während Tätowierer Andrea die Nadel ansetzt.
Beim Essener Tattoo-Event können sich Neulinge Mini-Motive stechen lassen
Am Stand des Studios aus Nördlingen bei Augsburg können sich die Besucherinnen und Besucher spontan für ein Mini-Tattoo entscheiden. „Meine Mutter hat sich vor kurzem eine Blume als erstes Tattoo stechen lassen“, sagt Manuel vom Management. Neulinge starteten meist erstmal mit kleinen bis mittelgroßen Motiven. „Die dauern 15, 20 Minuten. Für großflächige Motive ist ein Vorgespräch sinnvoll“, sagt er. Kurzentschlossenen stehen Dutzende von vorgezeichneten Motiven zur Auswahl, aber auch selbst Entworfenes wird unter die Haut gebracht.
Mut braucht es schon, sich spontan in die Hände eines fremden Tätowierers zu begeben. Das Problem hat Nils Herrman nicht. Der 24-Jährige, der in der Finanzbranche tätig ist, liegt ganz entspannt auf der Liege und lässt seine glattrasierte Wade von Svenja Dordevic bearbeiten. Sie betreibt mit ihrem Mann ein Tattoo-Studio in Remscheid. Die Sitzung wird sechs bis sieben Stunden dauern, schätzt sie. Nils Herrman kennt das, er hat schon großflächige Tattoos, das aktuelle soll nicht sein letztes sein: „Das macht schon ein bisschen süchtig, vor allem, wenn man, wie ich, direkt an der Quelle ist.“ Tätowiererin Svenja ist seine Schwester.
Neugierige Blicke sind beim Tattoo-Event in Essen erwünscht
Sich vor den Augen der Event-Besucher tätowieren zu lassen, ist sicherlich nicht jedermanns Sache, zumal ja manchmal auch intimere Stellen verschönert werden sollen. So lässt sich eine junge Frau direkt unter der Brust stechen, die Brustwarzen sind dabei abgeklebt. Auch Jenny (39) aus Bochum, die den Oberkörper einschließlich des Halses tätowiert hat, hat kein Problem mit neugierigen Blicken. Sie lässt sich ein großflächiges Gesicht auf den Arm aufbringen, das ein bisschen Ähnlichkeit mit ihr selbst hat. „Nein, das bin nicht ich“, wehrt sie ab.
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Jenny ist im öffentlichen Dienst beschäftigt. „Ich bekomme oft positives Feedback auf meine Tattoos, weiß aber nicht, ob ich so beim Vorstellungsgespräch genommen werden würde. Ich habe allerdings erst damit angefangen, als ich den Job schon hatte“, sagt sie. Das aktuelle Motiv hat sie mit Tätowierer Daniel Radurovic in Vorgesprächen gemeinsam erarbeitet, bis es exakt ihren Vorstellungen entsprach.
Drucker Jens (43) aus Bottrop vertraut seinem Stamm-Tätowierer Hoang, während Mathelehrer Francisco (57) sein Gegenüber Vlad Moldovan aus einem Düsseldorfer Tattoo-Studio erst vor kurzem auf Instagram kennengelernt hat. „Die Chemie stimmte sofort, das ist schon sehr wichtig“, sagt der Neusser, der sich schon auf das Ergebnis der Sitzung freut. „Ein neues Tattoo macht einen glücklich und man trägt es mit Stolz.“
Größere Werke entstehen oft in mehreren Sitzung
Die mehrstündige Prozedur sei anstrengend, aber auszuhalten. „Es geht einigermaßen schnell, er hat eine Haut, die die Farbe gut annimmt“, ist der Tätowierer mit dem Fortschritt zufrieden. Er sticht ein realistisches Frauengesicht mit Rissen, die an gebrochenes Holz erinnern. Mit dem Tattoo will er später an einem der Wettbewerbe teilnehmen, die während des Tattoo-Weekends auf der Bühne stattfinden.
„Ich mache mir mehr Sorgen um seinen Rücken als um meinen Arm“, sagt der Lehrer, der sich mit über 40 sein erstes Tattoo hat stechen lassen. Tattoos seien in seinem Beruf kein Problem. Die Schüler fänden es cool, viele Kollegen seien ebenfalls tätowiert.
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In der Weststadthalle trifft man so manches Original. Kris mit blinkendem Totenkopf-Hut betreibt in Saarbrücken eine Cocktailbar mit angeschlossenem Tattoo-Studio. „Da gibt es auch mal ein Schlückchen zur Beruhigung für die, die Angst haben. Das ist ja nur für den Kopf“, sagt er.
Bei einigen Tattoo-Fans in Essen gibt es kaum noch freie Hautstellen
Angst vor der Nadel kennt Kevin (35) eher nicht. Die langen Haare hat er zu Zöpfen geflochten, zeigt stolz seinen quasi komplett tätowierten Rücken. „40, 45 Stunden Arbeit stecken da schon drin, aber er ist als Kunstwerk ja noch nicht fertig“, sagt sein Kollege vom Hagener Studio, der sicher noch freies Stückchen Haut findet, auch wenn das auf den ersten Blick schwierig erscheint.
Dass Tattoos zwar derzeit besonders angesagt, aber keinesfalls eine neue Erfindung sind, erfährt der Besucher im Foyer der Weststadthalle. Dort hat Willy Robinson, der in Finnland ein Tattoo-Museum betreibt, einen Teil seiner Exponate ausgestellt. Zu sehen sind Lithografien, Vorlagenbücher, alte Plakate, historische Werkzeuge und kuriose, selbstgebaute Tätowiermaschinen aus Türklingeln, alten Rasierapparaten oder Teilen von Modellbooten.
Museumsbetreiber aus Finnland stellt in Essen einen Teil seiner Exponate aus
„Ältestes nachgewiesenes Beispiel für Tätowierungen ist der Ötzi“, verweist Robinson auf die in Südtirol gefundene Gletschermumie. Die sei rund 5300 Jahre alt und habe 61 Tattoos: Punkte, Linien, Armbänder und ein Kreuz. Auch eine Nachbildung des schwäbischen „Löwenmenschen“, einer 35.000 bis 41.000 Jahre alten Skulptur aus Mammut-Elfenbein, gehört zum Fundus des Museums. Das Kunstwerk zeigt einen Menschen mit dem Kopf und den Gliedmaßen eines Höhlenlöwen. Auch hier gibt es Ritzungen und Linien, die auf menschliche Vorbilder zurückgehen könnten.
„Viele bringen Tattoos mit Kriminellen oder Seeleuten in Verbindung, dabei waren früher auch Könige und bedeutende Krieger tätowiert“, so der Museumsbetreiber, der auch traditionelle Werkzeuge aus Stein und Knochen zeigt, die dann Ende des 18. Jahrhunderts durch Metallnadeln abgelöst worden seien. Hautbilder waren keineswegs nur Männersache: Für Frauen im prüden viktorianischen Zeitalter im 19. Jahrhundert seien Tätowierungen eine Chance gewesen, mehr Haut als üblich zu zeigen.
Das Tattoo-Weekend in der Weststadthalle, Thea-Leymann-Straße 23, geht am Sonntag, 20. Oktober, 11 bis 19 Uhr, weiter. Karten kosten 18 Euro.
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