Essen. Behörden agieren in einem Netz von Gesetzen und Bestimmungen, die Rückführungen verhindern, sagt Christian Kromberg. Dort gelte es anzusetzen.

Eine deutliche Erhöhung der Abschiebungsquote gehört nach dem Terror von Solingen zu den politischen Standardforderungen - nicht zum ersten Mal bei Anlässen dieser Art. So sehr der Essener Ordnungsdezernent Christian Kromberg diesen Impuls verstehen kann, so wenig sieht er Chancen, dies umzusetzen. „Es fehlen alle juristischen Voraussetzungen dafür“, sagt Kromberg. Das fange beim EU-Recht an, gehe weiter über bundespolitische Vorgaben und höre bei den vielen hundert Einzelbestimmungen auf, die einer wirksamen Abschiebungspraxis im Wege stünden. Etwas zugespitzt: Von Einzelfällen abgesehen, muss sich ein Asylbewerber schon sehr dumm anstellen, wenn die Behörde es tatsächlich schafft, einen Fall zur „Abschiebungsreife“ zu bringen und diese dann auch durchzusetzen. Dazu ist es zu einfach, Sand ins Getriebe zu streuen.

Zwei Zahlen zeigen das Dilemma: „Ausreisepflichtig sind derzeit 1659 Personen, die sich in Essen aufhalten“, sagt Kromberg. Das stehe aber nur auf dem Papier, denn die meisten besitzen aus den verschiedensten Gründen einen Duldungsstatus. Wirklich abgeschoben wurden im ganzen Jahr 2023 von den kommunalen Behörden exakt 21 in Essen lebende Ausländer, fünf verließen das Land freiwillig. Rechnet man den Rechtstitel des „Chancenaufenthalts“ dazu, der an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, erhöhe sich die Zahl der „eigentlich“ Ausreisepflichtigen in Essen sogar noch weiter.

Einige Nationalitäten sind vor Abschiebung aus politischen Gründen geschützt

Woran scheitert nun die Abschiebung? Da wäre zum Beispiel der von der Bundesregierung verfügte Abschiebestopp für bestimmte Länder, die als zu unsicher gelten. „Syrer, Afghanen und Iraner dürfen wir aus humanitären Gründen in keinem Fall abschieben“, sagt Kromberg. Dazu will zwar nicht gut passen, dass in Deutschland geduldete Afghanen mit Heimaturlauben aufgefallen sind, es ändert aber nichts an der Rechtslage.

Das größte und vielleicht auch ärgerlichste Problem bei der Abschiebepraxis ist aus Sicht Krombergs die Identitätsfindung: „Wenn man nicht weiß, woher jemand kommt, kann man ihn auch nicht abschieben.“ Das wissen natürlich auch die Flüchtlinge und geben daher oftmals an, ihre Pässe verloren zu haben. In Wahrheit sind die Papiere laut Kromberg vielfach nur gut versteckt, wie die Heimatreisen zeigten, die ohne Pass gar nicht möglich wären. Wie auch immer: Die Stadt ist in der Beweispflicht, das Herkunftsland eines abgelehnten Asylbewerbers zu ermitteln, was nicht nur sehr kompliziert sein kann, es gibt auch seitens der Herkunftsländer wenig Interesse, ihre eigenen Landsleute zurückzunehmen.

Herkunftsländer nehmen ihre Staatsbürger nur sehr ungern und widerstrebend zurück

Hier spielten auch wirtschaftliche Faktoren eine Rolle. „Die Menschen sind wertvoll, denn sie schicken ja Devisen nach Hause“, weiß Kromberg. Demnächst komme wieder eine Delegation aus verschiedenen Staaten nach Essen, denen abgelehnte Asylbewerber zur Überprüfung ihrer Identität vorgeführt werden. In vielen Fällen bleibe das aber ergebnislos. Und wenn es doch gelingt, den Nachweis der Staatsangehörigkeit zu erbringen, bedeute das noch lange nicht, dass von der jeweiligen Botschaft zeitnah die Papiere für die Rückreise kommen.

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Ein weiterer sehr relevanter Faktor der Abschiebeverschleppung ist dann laut Christian Kromberg das weite Feld der „individuellen Hindernisse“, wobei auch hier Dichtung und Wahrheit oft schwer auseinanderzuhalten seien. Von psychischen Erkrankungen bis hin zur Ehe mit einer deutschen Frau oder einem Mann ist da vieles möglich, auch eine Vaterschaft wird von Gerichten als Duldungsgrund bejaht. Scheinkinder und entsprechende Schein-Partnerschaften sind nicht leicht nachzuweisen, mitunter fehlt es wohl auch an Ermittlungseifer. Als diesbezügliche Krönung mag vor einigen Monaten der Fall von „Mr. Cash Money“ in Dortmund dienen, einem Nigerianer, der 24 Kinder als seine eigenen anerkannte und als Folge im Rahmen des Familiennachzugs 94 Personen zu Transfermittelbezug verhelfen konnte.

Abschiebeflüge werden vorab bekannt - abgelehnte Asylbewerber tauchen dann unter

Wenn es der Behörde tatsächlich gelingt, all diese Hindernisse beiseite zu räumen, sitzt der abgelehnte Asylbewerber aber noch lange nicht im Flugzeug. „Abschiebeflüge werden den Abzuschiebenden oft vorab bekannt“, sagt Kromberg, der zu den Gründen nicht spekulieren will. Offensichtlich spielen aber asylfreundliche deutsche Helfernetzwerke und entsprechend orientierte Rechtsanwälte eine nicht unerhebliche Rolle. Fakt ist laut Kromberg, dass Flüchtlinge vielfach nicht anzutreffen sind, wenn sie zum Flughafen gebracht werden sollen, wie es ja auch beim mutmaßlichen Attentäter von Solingen der Fall war. Manchmal tauchen sie - wie hier - in anderen Städten unter, manchmal auch nur in einem anderen Zimmer der Asylunterkunft, weiß Kromberg.

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Nun mag man fragen, warum die Behörden nicht jemanden schon Tage vorher festsetzen, wenn er abgeschoben werden soll. „Das wäre rechtswidrige Freiheitsberaubung“, betont Kromberg. Das erlaubte Zeitfenster zwischen Beginn der Ingewahrsamnahme und dem Beginn des Abschiebeflugs sei sehr kurz. „Abgesehen davon, habe ich nicht das Personal für Aktionen, die dann Tage in Anspruch nehmen würden.“

Das letzte Wort im Abschiebeprozess hat der Flugkapitän

Und wenn dann wirklich jemand pünktlich am Flughafen ist, wäre noch der Flugkapitän zu überzeugen, denn zumeist handele es sich um Linienflüge. Kromberg: „Wenn der Flüchtling sagt, er werde während des Fluges Rabatz machen oder sich schon vor dem Einsteigen aggressiv verhält, lehnen viele Kapitäne es ab, solche Passagiere mitzunehmen.“ Und mit etwas Glück wird der Delinquent dann sogar einfach mit der Auflage entlassen, sich zurück in seinen Unterkunftsort zu begeben – ohne weitere Kontrolle. Eine entsprechende Dienstverordnung der niedersächsischen Polizei sorgte jüngst für Furore.

Christian Kromberg meint, dass all diese Gesetze, Bestimmungen und Gerichtsurteile durchaus „jede für sich ihre Berechtigung“ hätten. Auch die vielen, juristisch kenntnisreichen Menschen, die Flüchtlinge mit dem Ziel beraten, einer Abschiebung zu entgehen, täten nichts Illegales. Aber: „In der Summe führt all dies dazu, dass eine Rückführung oft unmöglich ist“.

Wer daran etwas ändern wolle, erreiche mit politischen Forderungen allein wenig bis nichts. Hier müsse vielmehr grundsätzlich ein System verändert werden, das mit Asyl im ursprünglichen Sinn wenig zu tun habe, sondern faktisch unerwünschte Einwanderung im großen Stil ermögliche.

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