Essen. Essener Jugendliche erzählen, wie es ist, mit wenig Geld aufzuwachsen. Sie sagen, wie man es bei Mitschülern erkennt und was sich ändern muss.
Hussein besaß als Kind keine Nike-Schuhe wie seine Mitschüler, er hatte auch keine Badehose, kam in Textil-Shorts zum Schwimmunterricht. Seine Lehrerin habe ihn vor allen anderen in der Klasse gefragt, ob er schonmal duschen gegangen sei. „Früher habe ich mich dafür geschämt, dass meine Familie wenig Geld hatte, jetzt rede ich offen darüber“, erzählt der 18-Jährige, der gerade eine Ausbildung im Altenessener Kult-Café macht.
Dort treffen sich regelmäßig Jugendliche, um in verschiedenen Projekten aktiv zu sein. Sie erzählen, dass der Ort für sie wie ein Zuhause ist. Hussein: „Hier habe ich meine Familie gefunden.“
Eyyüphan Duy ist der Betreiber des Cafés und Gründer des zugehörigen Jugendhilfswerks Dein Kult e.V. Er will jungen Menschen eine Chance geben, obwohl ihre Zukunft zum Scheitern verurteilt war.
Kinderarmut in Essen: Ausflüge abgesagt
Das ist für den 55-Jährigen keine leere Floskel, sondern gelebte Realität. Er sei selbst „sehr arm aufgewachsen“. Er habe mit acht Personen in einer Dreizimmer-Wohnung gewohnt. In der Schule hätten alle Markenkleidung getragen, er nicht. „Die anderen haben sich in der Pause Milch oder Kakao gekauft, ich hatte kein Taschengeld.“ Wenn die anderen auf Klassenfahrt gefahren seien, musste er den Unterricht der Parallelklasse besuchen.
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Daran habe sich bis heute wenig geändert, erzählen die Jugendlichen bei einem Besuch im Kult-Café. Kinder, deren Familien wenig Geld hätten, würden schnell stigmatisiert. Die 15-jährige Nehir erzählt, dass Lehrer und Lehrerinnen zum Teil offen vor der Klasse Bescheinigungen vom Arbeitsamt an die betroffenen Schüler und Schülerinnen verteilen. Ausflüge zum Movie-Park und in die Trampolinhalle seien abgesagt worden, weil sich das nicht alle leisten konnten. „Die, die zu wenig Geld hatten, wurden dann gemobbt“, erinnert sich Nehir. Finden doch Ausflüge statt, müssten die, die nicht zahlen können, zum Unterricht in die Nachbarklasse.
Essener Jugendliche wünschen sich Schuluniform
Mbaine (16) findet, dass auch Schulausflüge, die keinen unmittelbaren Bildungsaspekt hätten, kostenlos angeboten werden müssten, um solche Situationen zu vermeiden. Gleiches gelte für Vereinsaktivitäten und laut der 15-jährigen Celine auch kostenlose Schulverpflegung für alle, damit einzelne nicht stigmatisiert würden. Eltern sollten dafür finanziell nicht belastet werden, gleichzeitig müsse es allen Kindern ermöglicht werden, um gleiche Chancen für alle zu schaffen.
Dass man in Essen davon noch weit entfernt ist, erläutern die Jugendlichen an weiteren Beispielen. So musste Tenin (18) zwei Monate für ihren Taschenrechner sparen und hatte ihn dann erst viel später als ihre Mitschüler und Mitschülerinnen. Rania (18) musste zuschauen, wie andere schon lange das neueste Handy nutzten. Das Thema Kleidung sei besonders heikel: Die Jugendlichen finden, eine Schuluniform würde helfen. Markenkleidung, Schmuck und Taschen – das sei es, woran sich Jugendliche untereinander messen – und das in der Pubertät, einer Lebensphase, in der Kinder grundsätzlich verunsichert sind.
Essenerin findet, man sollte offen mit dem Thema Armut umgehen
Die Auswirkungen können dann unterschiedlich sein, auch davon berichten die Essener. Hussein wurde gewalttätig. „Ich fing damit an, andere Leute zu schlagen.“ Fast wäre er im Gefängnis gelandet. Andere denken sich Lügen aus. „Manche verstecken sich hinter Witzen“, weiß Tabea (20), die erzählt, ihre Familie habe nie extrem viel Geld gehabt, aber auch nicht zu wenig. Mame Diore (17) hat beobachtet, dass sich eine Mitschülerin sozial distanziert und zurückgezogen hat: „Die anderen waren gemein zu ihr, weil sie nicht so viel Geld hatte.“
Und dann gibt es noch Kinder wie Tenin. Die heute 18-Jährige sagt, sie sei in „eher ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen“. Sie habe jedoch Schulen im Essener Norden besucht, wo es vielen ähnlich ging: „Für mich war es nie ein Problem. Ich war glücklich“, erzählt die Essenerin selbstbewusst. Sie kaufe ihre Kleidung noch immer Second Hand und findet: „Man sollte offen mit dem Thema Armut umgehen.“ Der Wert eines Menschen ließe sich schließlich nicht am Geld messen, nicht daran, welche Kleidung er trägt oder welches Handy er habe. Tenin: „Viele Kinder werden in reiche Familien hineingeboren. Die Eltern sollten den Kindern beibringen, dass das nicht selbstverständlich ist.“
Serie zum Thema Kinderarmut in Essen
Mehr als jedes fünfte Kind und jeder vierte junge Erwachsene gelten in Deutschland als armutsgefährdet, schreibt die Bertelsmann-Stiftung in ihrem Bericht von Januar 2023. Und: „Die Daten zeigen, dass sich die Lage nicht gebessert hat.“ Das trifft auch auf unsere Stadt zu, in der sogar fast jedes dritte Kind von Sozialleistungen lebt – trotz zahlloser Anstrengungen, Masterpläne und Projekte in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Mancher mag die Nachrichten vom vermeintlich abgehängten Norden der Stadt, von Bildungsverlierern und vererbtem Sozialleistungsbezug nur noch achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Abfinden sollten wir uns damit nicht.Im Rahmen einer Serie zur Kinderarmut wollen wir den 29.765 Kindern und Jugendlichen, die in Essen von SGB-II-Leistungen leben, ein Gesicht, eine Stimme geben. „Damit sich an dem strukturellen Problem der Kinderarmut endlich etwas ändert, sollte die Bundesregierung die angekündigte Kindergrundsicherung jetzt schnell und entschlossen auf den Weg bringen“, fordert die Bertelsmann-Stiftung. Wir fragen Experten vor Ort, welche Lösungswege sie sehen. Wir sehen uns an, wie Stadt, Wohlfahrtspflege und Ehrenamtliche Kinderarmut bekämpfen. Vor allem aber wollen wir die betroffenen Kinder fragen, was sie sich von ihren Eltern, der Politik, von Schule und Vereinen erhoffen.
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