Essen. Bei der „Zukunft Essen Innenstadt“-Debatte blieb das Thema Verkehrswende strittig. Einer störte die große politische Harmonie auf dem Podium.

Verkehrspolitik in Essen – bei keinem anderen lokalen Thema gehen die Wogen seit Jahren so schnell hoch. Moderator Christian Pflug versprach dann auch bei der vierten und vorerst letzten Diskussionsveranstaltung zur Zukunft der Essener Innenstadt einen „Boxring“ auf dem Podium. So hart wurde es dann nicht, über die Tatsache, dass die Essener immer noch überwiegend mit dem Auto unterwegs sind, wurde aber doch kontrovers debattiert.

Mehr als die Hälfte aller Wege in Essen findet mit dem Auto statt

Nach der letzten verfügbaren Erhebung aus dem Jahr 2019 finden allen politischen Verkehrswende-Bemühungen zum Trotz immer noch 55 Prozent aller Wege in Essen mit dem Auto statt, rund sieben Prozent mit dem Fahrrad, 19 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln und 19 Prozent zu Fuß. In den Corona-Jahren dürfte sich die Fahrrad-Quote leicht erhöht haben, aber auch die Auto-Nutzung blieb vermutlich mindestens stabil, zumal die Zahl der Kraftfahrzeuge immer noch leicht steigt – bundesweit wie auch in Essen.

Debatte: Essens Verkehrsdezernentin Simone Raskob, Stephanie Dietz vom Amt für Straßen und Radwegebau der Stadt Köln und Marc Heistermann (Geschäftsführer Handelsverband Ruhr).
Debatte: Essens Verkehrsdezernentin Simone Raskob, Stephanie Dietz vom Amt für Straßen und Radwegebau der Stadt Köln und Marc Heistermann (Geschäftsführer Handelsverband Ruhr). © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Viele Bürger, so scheint es, wollen nicht so wie die Ratspolitik will, die bis weit in die Essener CDU hinein das Auto aus umwelt- und klimapolitischen Gründen zurückdrängen möchte. Festzuhalten ist aber auch, dass man trotz des Drucks durch den grünen Kooperationspartner bisher auf rigorose Eingriffe verzichtet hat, wie sie zum Beispiel der mittlerweile abgewählte rot-grüne Senat in Berlin unter anderem an der berühmten Friedrichstraße für angebracht hielt. Die Fahrradstraßenpolitik in Essen etwa ist der Versuch, Radfahrer zu bevorzugen, ohne Autofahrer zu verdrängen oder durch Raumverknappung übermäßig lange Staus zu provozieren.

Mobilitätsforscherin riet der Lokalpolitik, auch gegen den Willen vieler Bürger Anti-Auto-Maßnahmen durchzusetzen

Was also tun? Anne Klein-Hitpaß, Leiterin des Bereichs Mobilität beim Deutschen Institut für Urbanistik, riet der Essener Politik, auch gegen den Willen vieler Bürgern verkehrspolitisch durchzugreifen: „Es allen Recht zu machen, wird nicht funktionieren“, erklärte sie, und nötig sei es auch nicht. Ein Beispiel aus Wien zeige, dass Kritiker irgendwann umschwenkten, wenn sie den Vorteil eines autofreien Quartiers begriffen hätten. „Veränderung erzeugt Widerstand, aber das legt sich.“

Es gehe nicht darum, das Autofahren zu verbieten, da gebe es weitaus elegantere Wege, meinte Klein-Hitpaß. Man könne etwa Parkplätze stark verteuern oder sie an den Straßenrändern ganz abschaffen und durch Radwege ersetzen. „Mit guter Planung kann man erreichen, dass es für die Autofahrer unbequem wird.“ Als „Erziehung“ von Bürgern wollte sie das aber nicht verstanden wissen, das sei polemisch.

Kontroverse um die Frage, ob die Bürger „erzogen“ werden sollen

Wenn Erziehung per Definition der Versuch ist, dass Verhalten von Menschen in eine gewünschte Richtung zu ändern, trifft das Wort das geforderte Vorgehen aber eben doch recht genau. So sah es jedenfalls Marc Heistermann, Geschäftsführer des Handelsverbands Ruhr, dem auf dem sechsköpfigen Podium als einzigem die Rolle des Skeptikers in Bezug auf die geforderte schöne neue Verkehrswelt zugedacht war. Umerziehung wie auch Verbote seien ungeeignete Mittel, sagte er.

Es kämen nun einmal sehr viele Kunden des Einzelhandels mit dem Auto in die Innenstadt, „und es ist ein Trugschluss zu glauben, die kommen künftig mit dem Fahrrad“, so Heistermann. Er sei nicht einseitig pro Auto eingestellt, doch müsse die Innenstadt „für alle gut erreichbar sein“. Gerade in einer Metropolregion sei es besonders fahrlässig, würde sich eine Innenstadt vom Autoverkehr abschotten oder bei den Parkgebühren überziehen wollen. „Die Menschen fahren dann einfach in ein Einkaufszentrum, da können sie sogar kostenlos parken.“

Sind die Sorgen des Einzelhandels vor einer Autofahrerflucht übertrieben?

Sicher gebe es Städte, die hohe Parkgebühren erheben können, ohne dass die Leute wegbleiben. „Wenn das Angebot stimmt, wie rund um die Kö in Düsseldorf, kann man das machen“, so Heistermann. „Aber können wir uns das in Essen leisten?“, fragte er rhetorisch. Heistermann zeigte sich leicht vergrätzt, über die aus seiner Sicht leichtfüßige Art, mit der Mobilitätsforscherin Anne Klein-Hitpaß, die Sorgen des Einzelhandels als übertrieben darstellte. „Hier geht es um Existenzen“, so Heistermann. Da sei es klar, dass man Experimente mit unklarem oder absehbar negativem Ausgang ablehne. Klein-Hitpaß ist hingegen überzeigt, dass der Einzelhandel die Bedeutung autofahrender Kunden „systematisch überschätzt“.

Moderat kritisch befasste sich auch Essens Umwelt- und Verkehrsdezernentin mit Marc Heistermann und anderen Skeptikern einer konsequenten Verkehrswende. Sie erinnerte daran, dass der Stadtrat beschlossen hat, bis 2035 den Anteil des Autoverkehrs auf 25 Prozent zu drücken und im Gegenzug die Anteile des Fahrradverkehrs, das Zufußgehen und die Bus- und Bahnnutzung auf jeweils 25 Prozent zu erhöhen.

Wie weit die Essener CDU zu gehen bereit ist, ist noch nicht ganz klar

Der Radentscheid, dem der Rat sich mehrheitlich anschloss, sei in diesem Zusammenhang ein „Jahrhundertereignis“, das sie in ihrer Amtszeit zu erleben, nicht zu hoffen gewagt habe. Es sei nun ihre Aufgabe, all dies auch umzusetzen, wofür der Rat rund 200 Millionen Euro bereitstellte. Unklar ist bisher, wie weit die politisch in Essen dominierende CDU und Oberbürgermeister Thomas Kufen zu gehen bereit sind, um Maßnahmen auch gegen die bevorzugte Verkehrsmittelwahl der Bürger durchzusetzen. Kufen ist dafür bekannt, Zuspitzungen nicht zu mögen.

Als ihre „Vision“ bezeichnete es Raskob, die jetzt sechsspaltige Schützenbahn am Ostrand der Innenstadt irgendwann in einen Park zu verwandeln. Allerdings bedürfe es für restriktive Vorgehensweisen „Mehrheiten in der Politik“, die in Essen nicht so einfach zu bekommen seien. Einfacher hat es in dieser Hinsicht offenbar die Podiumsteilnehmerin Stephanie Dietz, Abteilungsleiterin im Amt für Straßen und Radwegebau in Köln. Auch sie riet, bei der Verkehrswende nicht zu warten, bis alle überzeugt sind. „Wir müssen ein gutes Angebot für den Umweltverbund schaffen.“ In Köln sei das in den dicht besiedelten Quartieren politisch wenig umstritten.

Das Moderatoren-Duo hätte etwas neutraler agieren können

Zum Schluss wollte das gewohnt routinierte Moderatoren-Duo, das sich in dieser vierten Debatten-Runde etwas neutraler hätte zeigen können, von Marc Heistermann wissen, ob er denn nun überzeugt sei von der Richtigkeit der Verkehrswende. Der Geschäftsführer des Einzelhandelsverbands mochte seiner Skepsis aber nicht abschwören. So blieb es auf dem Podium dann unterm Strich bei 5:1.

Ob das die Stimmungslage in der Bürgerschaft widerspiegelt, darf man bezweifeln. Von den rund 150 Zuhörern im Veranstaltungssaal der FUNKE-Zentrale war jedenfalls jeder Zweite nach eigenem Bekunden mit dem Auto angereist, was ziemlich genau der auch sonst praktizierten Verkehrsmittelwahl der Essener entspricht. Zwei Drittel der Anwesenden immerhin können sich eine weitgehend autofreie Innenstadt vorstellen – was immer das genau heißt.