Essen. Sechs Stunden eines Digital-Parteitags reichten der SPD für einen bemerkenswerten Auftritt: mit neuem Vorsitzenden und veritabler Verkehrswende.
So knapp der Beschluss mit nur einer Stimme Mehrheit auch fiel: Geschlagene 23 Jahre hielten sich Essens Sozialdemokraten an ihr einst getroffenes Votum für den Weiterbau der A 52 durch den Norden der Stadt. Gemessen daran war die verkehrspolitische Wende der Genossen am Samstagnachmittag ein Klacks: Sechs Wortmeldungen am heimischen PC, zwölf Minuten Debatte, und Sekunden später war mit 108:13 Stimmen bei zehn Enthaltungen die Wende vollbracht. "Die SPD Essen lehnt den Weiterbau und den Lückenschluss der A 52 auf Essener Stadtgebiet ab."
Es war dies jene klare Position, um die man sich jahrelang herumgedrückt hatte - zuletzt 2011, als der damalige SPD-Chef Dieter Hilser und SPD-OB Reinhard Paß den innerparteilichen Frontalzusammenstoß nur durch einen Formelkompromiss verhindern konnten: Die Planungen zum Lückenschluss der Autobahn „bis auf Weiteres“ zurückzustellen - jeder wusste, dass dies nicht mehr war als eine politische Ausrede.
"Wir haben noch einiges aufzuarbeiten", räumt der scheidende Parteivorsitzende ein
Aber rausreden will sich die SPD nicht mehr. Und kann es wohl auch nicht, angesichts der jüngsten Wahl-Debakel, die womöglich schon im Herbst eine Fortsetzung finden. "Wir haben noch einiges aufzuarbeiten", räumte der scheidende Parteivorsitzende Thomas Kutschaty ein.
Und wenn man auf diesem digitalen Parteitag auch gelegentlich dem Reflex erlag, über die politischen Gegner zu lästern, über schwarz-grüne "Kooperatiönchen" und einen OB als "Scheinriesen mit dem Talent zur Selbstinszenierung": Die SPD machte auch deutlich, dass sie bei sich selber anfangen muss, um wieder erfolgreich zu sein: "Wir müssen uns alle ändern", brachte der Europa-Abgeordnete Jens Geier es auf den Punkt. "Es muss Schluss sein mit ,Wir gegen uns'!"
Wohlsortierte Bücherwände statt der sonst üblichen Saalschlacht-Atmosphäre
Das funktionierte bei diesem durchgehend digitalen Parteitag schon ganz ordentlich. Vielleicht auch, weil nicht nur die "lauwarme Kartoffelsuppe" fehlte, wie Kutschaty augenzwinkernd bemerkte, sondern auch die mitunter aufwiegelnde Dynamik früherer Saal-"Schlachten". Kein großer Beifall, keine "Hört hört"-Zwischenrufe, kein Gelächter oder wütendes Anraunzen.
Stattdessen beschauliche Blicke in mehr oder weniger aufgeräumte Wohnstuben, auf wohlsortierte Bücherwände und aufgehängte Gitarren, gekalkte Kellerräume oder vollgestellte Dunstabzugshauben.
Zum Start musste der designierte SPD-Chef den forschen Juso-Antrag entschärfen
Auf ermüdend lange Reden verzichteten alle Beteiligten, man ist ja weitgehend einig: Dass etwa der Unterschied zwischen den Postleitzahlen 45131 und 45141 "deutlich größer ist als zehn", weil die Bildungschancen in Essen so ungleich verteilt seien. Mit dieser sozialen Schieflage, so der designierte neue SPD-Vorsitzende Frank Müller, dürfe man sich nicht abfinden.
Er warb für einen "Neubeginn" und sah sich doch genötigt, wie vor ihm schon Fraktionschef Ingo Vogel, den allzu forschen Juso-Nachwuchs zu bremsen, der sein Plädoyer für eine unabhängige Beschwerdestelle gegenüber der Polizei mit einem Antragstext einstielte, der es in sich hatte: Dass die deutsche Polizei, statt Menschenrechte zu bewahren und zu schützen "durch ihr diskriminierendes und willkürliches Vorgehen genau das Gegenteil tut", löste bei manchem unwillkürlich Herzklabastern aus.
Eine aufwendige Wahlanalyse kommt zu spät, heißt es - und ist wohl zu teuer
Der Antrag wurde mit dem Hinweis, dass man unbestreitbar vorhandenes Fehlverhalten so nicht verallgemeinern könne, erst einmal an die Gremien verwiesen. Genauso wie der Antrag, ein unabhängiges Meinungsforschungs-Institut mit einer schonungslosen Wahl-Analyse zu beauftragen.
Letzterer sei zwar sinnvoll, "von der Zeitachse her aber zu unambitioniert", fand Müller, schließlich steht im September die Bundestagswahl an und im Frühjahr 2022 die Landtagswahl, bei der man Kutschaty den Weg auf den Ministerpräsidenten-Sessel ebnen will. Und teuer wäre eine solche Untersuchung obendrein, hieß es, vielleicht zu teuer für einen SPD-Unterbezirk, der den Verlust zahlreicher Mandate auch in der Kasse spüren wird.
Zurück zu alter Stärke, "das wird eine harte Strecke", mahnte Thomas Kutschaty die Delegierten, die in dieser Woche noch sämtliche Vornominierungen des Parteitags per Briefwahl bestätigen müssen. Der erste Schritt aber sei schon ganz gut gelungen, den dazu passenden "donnernder Applaus aus allen Stadtteilen" musste man sich allerdings dazudenken.
>>>>>Gewählt und nominiert per Mausklick
Sämtliche Abstimmungen des digitalen SPD-Parteitags müssen noch bestätigt werden, hier die Ergebnisse:
Im Bundestagswahlkreis 119 tritt bei der Wahl im September zum dritten Mal Dirk Heidenblut an. Er konnte sich mit 128:15 Stimmen gegen Susanne Kirchhof durchsetzen. Einen neuen Anlauf im Bundestagswahlkreis 120 unternimmt Professor Gereon Wolters. Er erhielt 107 von 145 Stimmen. Für den gemeinsamen Essen-Mülheimer Wahlkreis (118) wird in Mülheim nominiert.
Als neuer Parteivorsitzender soll der Landtagsabgeordnete Frank Müller die 3450 Essener Sozialdemokraten führen. Er erhielt 130 von 153 Stimmen. Seine Stellvertreter sind Julia Jankovic (114 Stimmen), Heike Brandherm (95) und Gereon Wolters (92). Schatzmeister wurde mit 127 Stimmen Martin Schlauch.