Dortmund. Vor sechs Jahren wurde der Vater der jungen Frau von Rechtsextremisten ermordet. Gamze Kubasik schildert bewegend, wie sehr die Familie unter der Tat und unter falschen Anschuldigungen gegen Mehmet Kubasik litt.
„Ich möchte, dass sich die Sache zu hundert Prozent aufklärt. Erst dann fängt meine Zukunft an. Dann habe ich endlich Ruhe und kann hoffentlich wieder normal leben.“ Bewegende Worte von Gamze Kubasik (26). Am 4. April vor sechs Jahren wurde ihr Vater Mehmet in seinem kleinen Kiosk an der Mallinckrodtstraße 190 brutal ermordet. Eine völlig sinnlose Tat, begangen durch Rechtsextremisten der Terrorvereinigung „NSU“.
Nachdem ihr Vater verstorben ist, schildert sie, sei sie ein Jahr nicht vor die Tür gegangen. „Ich wollte nur in meinem Zimmer bleiben, kein Fernseher, nichts. Ich saß da einfach nur. Warum? Ich weiß es nicht“, erzählt die junge Frau. Mehrere Schüsse töteten Mehmet Kubasik am 4. April 2006. Es waren Schüsse, die auch seine Ehefrau, seine Tochter und seine Söhne trafen.
Immer wieder habe sie später auf der Straße dieselben abfälligen Kommentare und Sprüche gehört, von Menschen, die ihren Vater nicht kannten. „Und ich wusste immer: Das stimmt alles nicht“, erzählt sie mit zittriger Stimme. Sie habe es nicht mehr mit anhören können. Das Schlimmste sei gewesen, dass man immer abgestempelt wurde. „Man war die Tochter eines Dealers, meine Mutter die Ehefrau eines Betrügers, ich die Tochter eines Mafiamitgliedes“, blickt sie immer noch verzweifelt zurück. Man habe nicht richtig trauern können. „Man Vater war ein Opfer, aber nur für mich, meine Mutter, meine Geschwister. Für die anderen war er lange Zeit nur ein Krimineller“, sagt Gamze Kubasik.
Die Familie vermutete früh einen rechtsradikalen Hintergrund
Selbst Freunde hätten so geredet, die sie gut kannten und „die wie Familie für uns waren“. Selbst die hätten gesagt: „Kann es denn nicht sein, dass da was Wahres dran ist an den Geschichten?“ Das sei die schlimmste Zeit für sie und ihre Familie gewesen. Nur ganz wenige habe es gegeben, die zu ihnen gehalten hätten.
Schweigeminute und Demo
Für die Familie aber habe immer festgestanden, dass die Täter aus dem rechtsradikalen Umfeld kommen müssen. Aber ihre Familie habe nichts in der Hand gehabt, hätten nichts beweisen können. „Aber ich weiß, was für ein Mensch mein Vater war, meine Mutter seine Ehefrau, ich seine Tochter,“ betont Gamze Kubasik. Und so habe für sie nichts anderes gegeben: Neonazis waren die Täter. Daran habe sich nie etwas geändert.
"Sein Tod war vollkommen sinnlos"
Als sie dann nach fünf Jahren endlich Gewissheit hatte, dass ihr Vater von Mitgliedern der NSU getötet worden war, sei das ein ganz komisches Gefühl gewesen. Den Hintergrund habe sie immer angenommen. „Doch war es ein Stich ins Herz“, so die 26-Jährige. Denn wirklich erleichtert sei sie über die Aufklärung nicht gewesen. Sie könne es akzeptieren, wenn ihr Vater durch einen schlimmen Autounfall oder eine schwere Krankheit ums Leben gekommen wäre. „Aber immer habe ich im Kopf: Mein Vater könnte noch leben. Sein Tod war vollkommen sinnlos“, sagt sie.
Das könne sie auch nach sechs Jahren nicht fassen. Ihr Vater habe sterben müssen, nur weil er aus einem anderen Land kommt, weil er anders aussieht. „Dass man Menschen deswegen umbringt?“, fragt sie fassungslos. Wenn Menschen sie fragen, wo denn ihr Vater sei, antworte sie immer: „Mein Vater ist gestorben.“ Es sei unheimlich schwer, diesen Menschen in die Augen zu blicken und ihnen zu sagen: „Mein Vater wurde durch Neonazis ermordet.“ Das gehe einfach nicht.
Tat soll nicht vergessen werden
Viele könnten das nicht verstehen. Seit 2006, seit ihr Vater verstorben ist, habe sie einen sehr engen Kontakt zu Semiya Simsek, der Tochter des ersten Opfers der Nazigewalt. Sie telefonierten fast täglich. Und dann ganz lange. „Mit ihr kann ich offen sprechen. Sie ist für mich jemand Besonderes“, lächelt Gamze Kubasik. „Wenn sie etwas erzählt, dann weiß ich, was sie meint, was sie fühlt. Wir haben das gleiche Schicksal. Wir müssen uns nur einmal anschauen, dann weiß ich, was in ihr vorgeht.“
Gamze Kubasik wurde von einem auf den anderen Tag in die Öffentlichkeit gezerrt. „Das ist eine Situation, die ich eigentlich nicht mag." Es sei sehr schwer für sie, über ihre Gefühle zu sprechen. „Aber nur dasitzen und nichts tun, das will ich nicht. Mein Vater und ich waren eins. Ich werde getrieben von dem Drang: Du musst rausgehen und was sagen. Sonst passiert da nichts. Sonst vergessen die Leute. Deswegen mache ich das.“
Deutschland ist ihre Heimat
Wenn sie rede, wie am Karfreitag in der Bittermark oder beim Abschluss des Ostermarsches am Montag, dann spreche sie für ihren Vater. Ihre Mutter habe ihr einmal gesagt: „Ich hätte nie gedacht, dass du so stark bist.“ Und diese Kraft habe sie, weil sie es immer für ihren Vater tue. Sie sei noch bei öffentlichen Auftritten nervös, aber hinterher wisse sie: „Das war richtig.“ Sie habe nie den Gedanken gehabt, aus Dortmund wegzugehen. „Deutschland ist und bleibt meine Heimat. Ich hatte nie das Gefühl: Ich muss weg.“
Seitdem sie weiß, warum ihr Vater ermordet wurde, habe sie schon mal überlegt, an den Ort zu gehen, wo es passiert ist. Doch fehle ihr der Mut. „Ich freue mich über die Menschen, die an meinen Vater denken.“ Doch zur Gedenkveranstaltung am Mittwoch konnte sie noch nicht gehen, auch wenn das alles schon Jahre her ist. Wenn sie dort vorbeifahre, blicke sie auf die andere Straßenseite. „Wenn ich da mal hingehe, dann allein oder vielleicht mit meiner Mutter.“