Sie horteten kiloweise Sprengstoff, handelten mit Maschinenpistolen und Handgranaten und planten Anschläge mit Rohrbomben: Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre deckte sich nicht nur das Terrortrio des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) mit Waffen und explosiven Materialien ein.
Berlin (dapd-lsc). Sie horteten kiloweise Sprengstoff, handelten mit Maschinenpistolen und Handgranaten und planten Anschläge mit Rohrbomben: Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre deckte sich nicht nur das Terrortrio des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) mit Waffen und explosiven Materialien ein. Auch andere Neonazis rüsteten auf. Einem vertraulichem Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz zufolge stellten Sicherheitsbehörden von 1997 bis Ende 2003 bei Rechtsextremisten in 114 Fällen Waffen, Munition oder Sprengstoff sicher. Der Bericht stammt aus dem Jahr 2004 und verdeutlicht die Militanz der Szene. Er liegt der Nachrichtenagentur dapd vor.
Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe - die erst mit ihrem Auffliegen im November vergangenen Jahres als mutmaßliche Rechtsterroristen bekannt wurden - ist in dem 47 Seiten starken Bericht ein 35-Zeilen-Abschnitt gewidmet. Darin heißt es, seit ihrer Flucht hätten sich "keine Anhaltspunkte für weitere militante Aktivitäten" ergeben. Damit bestätigt sich, dass die Sicherheitsbehörden die mutmaßlichen Serienmörder nach ihrer Flucht zwar im Blick hatten, ihre Gefährlichkeit aber unterschätzten.
Trotz der aufgelisteten Funde von Waffen bei anderen Neonazis schätzte die Behörde die Terrorgefahr von rechts seinerzeit als gering ein: "Derzeit sind in Deutschland keine rechtsterroristischen Organisationen und Strukturen erkennbar", hieß es. Bestrebungen von Einzeltätern oder Kleinstgruppen, insbesondere 1999 und 2000, hätten die Behörden "frühzeitig aufgedeckt und zerschlagen, noch bevor eine ernsthafte Gefährdung entstehen konnte". "Exekutivmaßnahmen" hätten eine "erhebliche abschreckende Wirkung" erzielt.
Der Bericht listet für die Jahre 1997 bis 2004 dreißig Fälle auf, in denen rechtsextremistischen Einzelpersonen oder Gruppierungen sich Waffen besorgten oder dies versucht hatten. Im Berichtszeitraum wurden 35 Personen deswegen zu meist mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Neun Verfahren wurden eingestellt.
Vier im Bericht genannte Anschläge oder Anschlagsserien sind bis heute ungeklärt: der Sprengstoffanschlag auf die Wehrmachtsausstellung in Saarbrücken 1999, eine Anschlagsserie einer "Nationalen Bewegung Potsdam" aus 2000 und 2001, der Sprengstoffanschlag auf das Grab des einstigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, im Jahr 1998 sowie der Sprengstoffanschlag auf den jüdischen Friedhof Berlin 2002.
In welchem Ausmaß Neonazis Waffen horteten, zeigte das Beispiel des Neonazis und früheren NPD-Politikers Peter Naumann. Bereits 1988 wegen eines Sprengstoffanschlags verurteilt, stellten Ermittler 1995 bei ihm unter anderem drei Handfeuerwaffen, Gewehr- und Handgranaten, Minen, eine größere Menge Munition, sowie 200 Kilogramm Sprengstoff sicher. Wegen Verstoß gegen das Waffen- und Sprengstoff- sowie gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz wurde Naumann 1998 zu einer Haftstrafe von 20 Monaten verurteilt. Das Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung stellte die Bundesanwaltschaft dagegen ein. Die NPD hatte ihn nach seiner ersten Verhaftung 1987 ausgeschlossen. Die sächsische Landtagsfraktion der Partei beschäftigte ihn 2005 als Berater.
Tödlich endete ein Anschlag des Neonazis Kay Diesner. Aufgeputscht mit rechtsextremer Musik schoss er am 19. Februar 1997 mit einem Schrotgewehr einen Buchhändler nieder, von dem er glaubte, er würde der PDS angehören. Dem Händler musste der linke Unterarm und ein kleiner Finger amputiert werden. Wenig später erschoss Diesner bei einer Kontrolle auf einem Autobahnrastplatz in Schleswig-Holstein einen Polizisten. Im Dezember 1997 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht erkannte eine besondere Schwere der Schuld.
Bemerkenswert ist auch der vom Verfassungsschutz geschilderte Fall des Neonazis Andre C.. Der damals 22-Jährige überfiel im Juni 2000 auf einem Truppenübungsplatz in Baden-Württemberg eine Bundeswehreinheit und raubte sechs Pistolen und 1.150 Schuss Munition. C. hatte zuvor selbst der Bundeswehr angehört - als Soldat der Eliteeinheit "Kommando Spezialkräfte", die beispielsweise für Geiselbefreiungen eingesetzt wird. Nach mehrwöchiger Flucht stellte sich C. der Polizei. Nach eigener Aussage wollte er Anschläge gegen Politiker und andere ihm missliebige Personen begehen. 2001 wurde er wegen schweren Raubes und schwerer räuberischer Erpressung zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Untätig waren die Behörden im Kampf gegen gewaltbereite Rechtsextremisten also nicht. Die Skrupellosigkeit und das planvolle Vorgehen des NSU überstieg jedoch offenbar das Vorstellungsvermögen der Verfassungsschützer. "Relativ spontane Taten" hielten die Experten zwar für möglich und für "kaum zu verhindern". Für einen "planmäßigen Kampf aus der Illegalität heraus", so heißt es jedoch, würden "geeignete Führungspersonen, Logistik und finanzielle Mittel" fehlen. Wie falsch die Experten damit lagen und warum, werden die Untersuchungsausschüsse des Bundestags und der Landtage Thüringen und Sachsen klären.
dapd