Bochum. Drohungen, Beleidigungen, Gewalt: Bochumer Mediziner haben immer öfter mit Aggressionen im Wartezimmer zu tun. Wie sie lernen, damit umzugehen.
Es geschah vor einem Jahr in einer Bochumer Kinderarztpraxis. Einem Vater erschien die Wartezeit bis zur Behandlung seines Kindes als zu lang. „Er wurde laut, griff eine Arzthelferin tätlich an und trat eine Tür ein. Erst als die Polizei gerufen wurde, trat der Mann den geordneten Rückzug an“, schildert Dr. Eckhard Kampe. Ein Einzelfall. Der Befund des Bezirksleiters der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) ist gleichwohl alarmierend: Auch in Bochumer Arztpraxen komme es immer häufiger zu Beschimpfungen, Bedrohungen, mitunter Gewalt.
Gewalt in Arztpraxen: Umfrage mit „schockierenden“ Ergebnissen
Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, richtete kürzlich einen Weckruf an die Politik. „Aggressives Verhalten, verbale Bedrohungen bis hin zu Tätlichkeiten sind ein wachsendes Problem in den Arztpraxen“, so Gassen. Der Ton sei „in der Tat aggressiver geworden“, bekräftigt KVWL-Vorsitzender Dirk Spelmeyer. Gerade die Medizinischen Fachangestellten (MFA) würden von Patienten und auch Angehörigen beleidigt und angegriffen.
Das belegen Zahlen der Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL). In diesem Frühjahr beteiligten sich 4513 Ärztinnen und Ärzte an einer Umfrage. 2917 davon antworteten auf die Frage „Haben Sie in der Vergangenheit in Ihrem ärztlichen Alltag Gewalt erfahren müssen?“ mit Ja. ÄKWL-Präsident Johannes Albert Gehle zeigt sich „schockiert“ über das Ergebnis.
Arzt wurde in der Notdienstpraxis körperlich angegriffen
Zahlen für Bochum gibt es nicht. Erfahrungswerte sehr wohl. Der bundesweite Trend sei auch hier spürbar, konstatiert KV-Bezirksleiter Kampe auf WAZ-Anfrage. In der Corona-Pandemie habe es begonnen. Die Patienten seien „fordernder, haben weniger Geduld“. Leidtragende seien die Angestellten, die sich zunehmend polternden und pöbelnden Patienten erwehren müssten. Nicht selten werde Gewalt angedroht. Zwar seien in Bochum bislang keine Verletzten zu beklagen. Aber: „So etwas gab es früher nicht.“
Auch Kampe selbst wurde bereits körperlich attackiert. Nicht in seiner Hausarztpraxis, jedoch bei seiner Tätigkeit im ärztlichen Notdienst. Als „alter Hase“ wisse er damit umzugehen und könne brenzlige Situationen schnell beruhigen, so Kampe. Jüngere Kolleginnen und Kollegen hingegen seien darin weniger geübt.
Bochumer Chirurg gibt in Online-Seminaren drei wichtige Empfehlungen
Dr. Christian Möcklinghoff will genau das ändern. Der Bochumer Chirurg und Vorsitzende des Medizinischen Qualitätsnetzes (MedQN) betreibt seit 2018 die Ausbildungsakademie „Ihre gesunde Arztpraxis“. In Online-Seminaren erfahren Ärztinnen und Ärzte und ihre Teams unter anderem, wie man mit aggressiven Patienten verfährt – was dokumentiert, welchen Stellenwert das Thema inzwischen in der Medizin einnimmt.
Deeskalation sei angesagt, betont Möcklinghoff. Seine drei wichtigsten Empfehlungen:
- Für den Krawallmacher gehe es meist darum, Macht zu demonstrieren. Die MFA hinter der Servicetheke wird dabei als leichtes Opfer angesehen. Deshalb sollte die Angestellte bei Konflikten sofort aufstehen, um Augenhöhe herzustellen, möglichst Kollegen zur Hilfe holen und den Chef oder die Chefin informieren.
- Jetzt gilt: den Patienten isolieren. „Schleunigst sollte er in ein separates Zimmer gebracht werden“, so Möcklinghoff. „Damit wird ihm die Bühne genommen, die er mit seinem lärmenden Auftreten sucht.“
- Droht der Patient Gewalt an oder wird übergriffig, sollte unverzüglich die Polizei verständigt und ein Hausverbot verhängt werden.
Ausbilder: Einige Praxen tragen durch mangelhafte Organisation zu Konflikten bei
So wirksam diese Maßnahmen im Alltag seien: Möcklinghoff macht zwei Schwachpunkte aus. Es gebe Praxen, in denen die Ärztinnen und Ärzte nur zögerlich oder gar nicht Gebrauch von ihrem Hausrecht machen. Grund: die Sorge vor schlechten Bewertungen in den sozialen Medien. Und: „Manche Praxen tragen durch eine mangelhafte Organisation dazu bei, dass Patienten die Hutschnur reißt“: mit langen Wartezeiten, unfreundlichem (weil überfordertem) Personal und drangvoller Enge.
„So ist die Aggression vielfach eine Reaktion“, sagt Christian Möcklinghoff und appelliert an betroffene Patienten: „Ruhe bewahren, Probleme bestimmt, aber freundlich ansprechen und bitte nicht herumschreien. Das hilft niemandem.“
Kassen-Chef erkennt ein gesamtgesellschaftliches Problem
Die Politik reagiert. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat angekündigt, dass Gewalt und Gewaltandrohungen gegen Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte stärker in den Fokus rücken müssten. Man arbeite an einem Gesetz zur Strafverschärfung.
KV-Chef Eckhard Kampe bezweifelt, ob dies zu einer nachhaltigen Besserung führt. „Schärfere Gesetze allein werden die Übergriffe kaum verhindern“, glaubt der Hausarzt. „Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.“
Patienten „tendenziell dünnhäutiger“
Auch mit Blick auf Krankenhäuser wird bundesweit über eine steigende Zahl aggressiver Patienten geklagt, vor allem in den Notaufnahmen. Die Augusta-Klinik in Bochum kann das auf WAZ-Anfrage nicht bestätigen. „Eine Zunahme verbaler oder körperlicher Gewalt gegenüber unseren Mitarbeitenden können wir nicht feststellen. Das gilt gleichermaßen für die Zentrale Notaufnahme wie für die Stationen“, berichtet Augusta-Sprecher Ulf Stockhaus.
Beobachten lasse sich allenfalls, dass Patienten und Angehörige seit der Corona-Pandemie „tendenziell etwas dünnhäutiger und ungeduldiger auftreten“. Stockhaus: „Kommt es zu Übergriffen, gehen diese meist von psychisch erkrankten Personen aus. In solchen Fällen greift ein regelmäßig trainiertes Deeskalationsprotokoll, das auch den Ruf des Sicherheitsdienstes bzw. der Polizei vorsieht.“ Das Prinzip sei klar: „Wer vorsätzlich gegenüber helfenden Pflegekräften und Ärzten handgreiflich wird, hat ethisch jeglichen Kredit verspielt.“