Bochum. Drei leibliche Kinder hat Luise K. großgezogen, dazu drei Pflegekinder. Seit 2005 nimmt sie Kinder in Bereitschaftspflege auf. Was sie antreibt.
Der Anruf kam um kurz nach 16 Uhr, Luise K. weiß es noch genau: Im September 2023 war das, einen Tag zuvor hatte sie sich beim Jugendamt gemeldet und erklärt, dass sie wieder bereit wäre. Am Nachmittag also der Anruf und die Frage, ob sie das zehn Monate alte Mädchen aufnehmen könnte. „Um 18 Uhr war Mia bei mir.“
Inzwischen ist es Juni 2024, das heute anderthalb Jahre alte Mädchen sitzt im Spielzimmer des Pflegekinderdienstes im Bochumer Jugendamt auf dem Schoß der 74-Jährigen, blickt mit großen Augen in die Runde. Luise K. ist Bereitschaftspflegemutter – eine von 23 Familien, die in Bochum Kindern in Notsituationen ein Zuhause auf Zeit geben.
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Wann das Jugendamt Bochum Kinder aus ihren Familien nimmt
Ihren richtigen Namen möchte K. nicht veröffentlicht wissen, auch Mia heißt eigentlich anders. Die Pflegemutter soll ebenso wenig identifizierbar sein wie das Mädchen, keine Rückschlüsse auf die leiblichen Eltern gezogen werden. Der Fall aber, er kann exemplarisch stehen für viele andere. Die leibliche Mutter habe keine Bindung zum Kind aufgebaut, sich nicht ausreichend gekümmert. „Ich bin die erste richtige Bezugsperson“, sagt Luise K.
Die Gründe, aus denen das Jugendamt entscheidet, ein Kind aus seiner Familie zu nehmen, können vielfältig sein, erklärt Christoph Sundermann, Sachgebietsleiter für den Pflegekinderdienst und die Adoptionsvermittlungsstelle, und nennt Beispiele: Überforderung der Eltern, mangelnde Erziehungsfähigkeit und fehlende Bindung, aber auch Probleme durch Drogen- oder Alkoholabhängigkeiten, schwierige Partnerschaften.
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Bereitschaftspflege dauerte in Bochum 2023 im Schnitt zehn Monate
„Hauptaufgabe und Ziel des Jugendamtes ist es, das Familiensystem zu erhalten“, sagt Sundermann. Wenn das nicht funktioniere und das Kindeswohl gefährdet sei, komme die Bereitschaftspflege zum Zuge. Während das Kind in Sicherheit und Geborgenheit zur Ruhe kommen könne, werde die weitere Perspektive geklärt. Was bräuchte es, damit das Kind zurück zu den leiblichen Eltern könnte? Oder ist eine dauerhafte Unterbringung, idealerweise in einer Pflegefamilie, die geeignete Alternative?
Bereitschaftspflege – der Name lässt es schon erahnen: Die Beziehungen, die Menschen wie Luise K. aufbauen, sind nicht auf Dauer angelegt. Sechs Wochen bis sechs Monate solle die Perspektivklärung in der Theorie dauern, erklärt Julia Schiske, Sozialarbeiterin aus dem Fachdienst Bereitschaftspflege. In der Praxis bleiben die Kinder oft länger: in Bochum zuletzt durchschnittlich 10,1 Monate.
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Windeln und Pre-Nahrung hat die Pflegemutter immer im Haus
Luise K. kennt die ganze Bandbreite: drei Tage war der kürzeste Zeitraum, den ein Pflegekind bei ihr blieb – andere betreute sie 22 Monate. Seit 2005 ist sie Bereitschaftspflegemutter – und Mia ihr 86. Pflegekind. Sie nimmt Kinder unter zwei Jahren auf. Ein Zimmer („das Größte und Schönste!“) steht dafür bereit, Kleidung in unterschiedlichen Kleinkind-Größen, auch Windeln und Pre-Nahrung hat sie immer im Haus.
Die 74-Jährige lässt sich voll ein auf ihre Schützlinge und auf deren Bedürfnisse, „für die Zeit ist das mein Kind“, sagt sie, „und so fühlt man das auch.“ Aber es ist auch klar: Sie muss regelmäßig wieder loslassen. „Trauer ist immer dabei“, sagt K.
„„Die Kinder haben alle ihren Koffer schon dabei. Wenn man da ein paar gute Sachen reinpacken kann, dann ist das sehr beglückend.““
Ein Schlussstrich sei dennoch nicht vorstellbar. „Als ich 62 war, hab ich gesagt, mit 70 hör‘ ich auf“, erzählt sie. Nun sei sie 74, seit elf Jahren verwitwet, und sie warte immer noch auf den Moment, an dem sie „satt vor Kindern“ ist. Ihr erwachsener Sohn, erzählt K., sage immer: „Mach das bloß weiter! Sonst wärst du nicht so fit.“
Drei leibliche und drei Pflegekinder
Drei leibliche Kinder hat Luise K. mit ihrem Mann großgezogen. Als diese zehn, 14 und 15 Jahre alt waren, kam das erste Pflegekind dazu, später noch zwei weitere. Auch die drei Dauerpflegekinder begleitete das Paar bis ins Erwachsenenalter, sie nahmen ihren Familiennamen an, „das sind meine Kinder“. Heute sind sie alle erwachsen.
Zu den allermeisten der mehr als 80 Bereitschaftspflegekindern, die sie in den vergangenen fast 20 Jahren aufgenommen hat, hat K. keinen Kontakt mehr. Nach einem Abschied helfe ihr der Austausch mit anderen Pflegefamilien, sie habe da inzwischen ein gutes Netz.
Wenn ein Kind geht, braucht die Pflegemutter einige Wochen Pause
Er habe, sagt Christoph Sundermann, „den allerhöchsten Respekt vor Pflegeeltern!“ Sie stünden am Ende der Kette, hätten am wenigsten Rechte, kaum ein Sprachrohr – leisteten aber solch einen wertvollen Dienst. Und auch Julia Schiske betont: „Die ersten drei Lebensjahre sind ganz entscheidend für die Entwicklung.“ Pflegemutter Luise K. beschreibt das so: „Die Kinder haben alle ihren Koffer schon dabei. Wenn man da ein paar gute Sachen reinpacken kann, dann ist das so beglückend.“
Wenn ein Kind sie verlässt, nehme sie sich meist zwei bis vier Wochen Pause, um mit dem Kapitel abzuschließen, neue Kraft zu tanken. Und dann steht sie wieder bereit – für den nächsten Anruf.
Bereitschaftspflege wird vergütet
Bereitschaftspflege ist kein Ehrenamt: Wer ein Kind bei sich aufnimmt, bekommt dafür auch eine Vergütung. Die Stadt Bochum zahlt pro „Belegtag“ aktuell eine Pauschale von 75 Euro. Der Tagessatz werde jährlich angepasst, so die Stadt. Außerdem gibt es Beihilfen, beispielsweise für Erstausstattung oder Urlaub. Details erklären und beantworten die Fachleute vom Jugendamt auf Anfrage.
Interessenten können sich schon einmal den 9. Oktober 2024 vormerken: Dann stellt das Team Bereitschaftspflege Voraussetzungen und Möglichkeiten auf einem Infoabend in der Familienbildungsstätte an der Zechenstraße vor. Anmeldung soll beizeiten über das Kursprogramm der Familienbildungsstätte möglich sein.
Weitere Informationen gibt es beim Team der Bereitschaftspflege telefonisch unter 0234/9101938 bzw. 0234/9103733 oder online auf bochum.de/pflegekinder.