Oberhausen. Mit dem Kauf der Bibliothek von Revierflaneur Manuel Heßling begann die Erfolgsgeschichte des Literaturhauses. Eine Inspiration seit fünf Jahren.

Er ist wortwörtlich die Basis des Literaturhauses: Zuerst gab’s diesen Bestand von 6000 Büchern aus dem Nachlass des „Revierflaneurs“ Manuel Heßling, erworben von Dr. Michael Huhn. „Drum herum“ wuchs und gedieh die Idee, diese „Schatzkiste“ zu öffnen – kurz: ein Literaturhaus einzurichten.

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„Gelesen wird hier“, sagt Michael Huhn vor einer der drei Bücherwände im Literaturhaus. „Eine Leihbücherei würde nicht zu uns passen.“
„Gelesen wird hier“, sagt Michael Huhn vor einer der drei Bücherwände im Literaturhaus. „Eine Leihbücherei würde nicht zu uns passen.“ © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

„Was sollen Bücher im Lager?“, fragte sich auch Ursula Heßling, die Witwe des gelernten Buchhändlers und Bloggers Manuel Heßling (1956 bis 2012), der in seiner Essener Wohnung mit literarischen Soireen das „Modell“ geliefert hatte, von dem sich die Oberhausener inspirieren ließen. So begann zum Frühlingsanfang vor fast genau fünf Jahren mit Literaturnobelpreisträger Bob Dylan – in Gestalt seines Übersetzers Gisbert Haefs – ein immer ambitionierteres Programm, das jetzt nur eine Pandemie ausbremsen konnte.

Doch die mit dem Heßling’schen Vermächtnis gefüllten Bücherregale sind weit mehr als nur Ambiente im schmalen Literaturhaus-Domizil an der Marktstraße 146. „Über hundert Soireen“, sagt Hakki Toker, habe Manuel Heßling in seinem Zuhause gestaltet – und war dafür stets auf der Suche nach zündenden Texten. Ähnlich nutzen nun der Arzt und sein Mediziner-Kollege Michael Huhn diese so individuelle wie zeitlose Privatbibliothek eines literarischen Schatzsuchers.

Perlentaucher in Heßlings Büchermeer

Denn online gibt’s auf literaturhaus-oberhausen.de die immer wieder ergänzte Rubrik „Schatzkiste“. Die Perlentaucher in Heßlings Büchermeer haben dafür bisher den APO-Poeten Peter Paul Zahl herausgefischt und Klassiker wie Victor Hugos „Der letzte Tag eines Verurteilten“ – um dessen Aktualität pointiert bewusst zu machen.

Gestaltet von Künstlerhand: Otto Müller schuf die Grafik für die „Ex libris“-Schildchen in jedem Buch aus Heßlings Besitz.
Gestaltet von Künstlerhand: Otto Müller schuf die Grafik für die „Ex libris“-Schildchen in jedem Buch aus Heßlings Besitz. © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

„Manuel hatte überschlagen 8000 Bände“, sagt Ursula Heßling. „Die haben sich unbemerkt vermehrt. Uns ist das erst mit den Umzügen bewusst geworden.“ Doch zum Glück seien auch die Söhne „größer und stärker geworden“ – um Kartons zu stemmen. Im eigenen Besitz hat die Familie vor allem bibliophile Kostbarkeiten behalten: Ursula Heßling nennt „Zettels Traum“, das in jedem Sinne gewichtige Monumentalwerk von Arno Schmidt, 1970 gedruckt als Faksimile der Typoskripte: Denn im üblichen Buchdruck wären die vor und zurück springenden Spalten damals gar nicht zu setzen gewesen.

„Eine Erlösung“ nennt Ursula Heßling den Verkauf des Großteils der jedes Wohnungsformat sprengenden Bibliothek: „Sammeln ist echt gefährlich; wir haben die Nachteile zu spüren bekommen.“ So fällt es ihr zunächst nicht leicht zu beschreiben, was diesen individuellen Literaturschatz auszeichnet – außer einem umfassenden Interesse, das sich von Klassikern bis zu Gegenwartsautoren spannte.

Einst eine verlegerische Großtat

Ihre pointierteste Antwort: „Laurence Sterne lieber als Goethe“ – beides zwar Zeitgenossen im 18. Jahrhundert, doch der eine ein vielzitierter, aber nicht so oft gelesener Experimentator von irischem Sprachwitz, dessen „Tristram Shandy“ bereits die modernistischen Kunstgriffe wesentlich späterer Romanciers vorwegnimmt.

Ein historischer Reisebericht aus Palästina oder neue Literatur bis zum Jahr 2012: Hakki Toker lässt sich gerne vom Heßling’schen Bücherbestand überraschen.
Ein historischer Reisebericht aus Palästina oder neue Literatur bis zum Jahr 2012: Hakki Toker lässt sich gerne vom Heßling’schen Bücherbestand überraschen. © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

Eigenwillige Denker also, in deutscher Sprache von Arthur Schopenhauer bis Erich Mühsam – und ein ebenfalls großer Bestand an Bildbänden. „Mir ist sein Faible für Architektur aufgefallen“, ergänzt Michael Huhn, und Hakki Toker verweist auf besondere Fotografie-Bände: „Manuel Heßlings Forschung war niemals nur eine Eintagsfliege.“ Toker freut sich aber auch über die komplette Ausgabe der „Fackel“ des großen Wiener Zeit- und Sprachkritikers Karl Kraus: einst eine verlegerische Großtat des Zweitausendeins-Verlags.

„Manuels politisches Interesse“, so sieht’s Ursula Heßling, galt mehr den revolutionären Ideen in der Literatur als etwa linker Dogmatik: „Ein weiteres immer wiederkehrendes Thema in seinem Leben war die Verarbeitung der Geschichte Deutschlands, insbesondere des Dritten Reichs. Das hat ihn nie losgelassen.“

Geschmäht als „Asphaltliteratur“

Und so präsentiert die betont maritim mit Herman Melville aufgeklappte digitale „Schatzkiste“ des Literaturhauses auch das Werk von Irmgard Keun, von den Nationalsozialisten geschmäht als „Asphaltliteratur mit antideutscher Tendenz“.

Entdeckungen ließen sich noch viele machen. „Wegen Corona waren wir lange nicht mehr hier“, sagt Hakki Toker. Doch obwohl das Literaturhaus derzeit für Gäste wie Vereinsmitglieder geschlossen ist, hofft Michael Huhn mit Blick nach vorne auf „den Manuel-Effekt“: Man streift an den Regalreihen entlang – und findet ein neues Thema für einen anregenden literarischen Abend.