Oberhausen. Die unfreiwilligen „Weltmeister des Verschiebens“ legen für das Literaturhaus ein vorläufiges Programm auf – und investieren in Filtertechnik.
Sollte Novalis vor 221 Jahren etwas geahnt haben in frühromantischer Empfindsamkeit? „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren / Sind Schlüssel aller Kreaturen“, dichtete der Freiherr und Salinenassessor anno 1800. Rainer Piecha erkennt darin Zeitkritik – und versandte das berühmte Gedicht an die Mitglieder des Literaturhauses. „Wenn die, so singen oder küssen / Mehr als die Tiefgelehrten wissen“.
„Wir binden das gesellschaftliche Leben an Inzidenzzahlen“, sagt der Vorständler des rührigen Vereins. Und ergänzt unisono mit dem Literaturhaus-Vorsitzenden Hartmut Kowsky-Kawelke: „Damit stimmen wir nicht überein.“ Die Programmmacher des Oberhausener Literaturbetriebs sehen sich inzwischen als „Weltmeister des Verschiebens“. Ein hochkarätiges erstes Quartal war entworfen, festgezurrt, veröffentlicht worden – und musste komplett dem anhaltenden Lockdown geopfert werden. Zum Glück hatten die Literaturhäusler mit ihren Gästen bereits einen „Plan B“ vereinbart, ihre Termine in die Sommer-Saison zu verlegen.
„Bei uns geht es nur um Lust oder Unlust“, sagt Kowsky-Kawelke zu den Folgen der „bloßen Fortschreibungen von Verordnungen“ für den personell wie finanziell gut aufgestellten Vereins. Aber die Aktiven des Literaturhauses nehmen wahr, wie existenzbedrohend der Dauer-Lockdown die Szene angreift. „Die Ausgleichszahlungen fließen nicht sauber“, sagt Rainer Piecha. „Novemberhilfe“ ist längst zu einem bösen Wort mutiert – statt zu einem Lichtblick.
Die Filter müssten in Schulen installiert sein
Dabei konnte der Literaturhaus-Verein – mit einiger Ausdauer im Papierkrieg – sein Domizil an der Marktstraße 146 mit zwei „professionellen Luftfiltern“, so Piecha, ausstatten: 5000 Euro gab’s dafür aus dem Fördertopf für infektionssichere Kulturstätten. Mit ihren Aktivkohlefiltern säubern die Geräte über 99 Prozent verdächtiger Partikel aus der Raumluft und informieren zudem kontinuierlich über die Luftqualität. Der lange, aber schmale Raum des Literaturhauses sollte so wieder nutzbar sein – und mehr. „Diese bewährten Geräte“, so Kowsky-Kawelke, „müssten eigentlich in den Schulen installiert sein.“
Der jüngste Stand der Termin-Verschiebungen
Über den aktuellen Stand der ungewollten Termin-Verschiebungen informiert online literaturhaus-oberhausen.de. Positiver stimmen andere Beiträge auf der Homepage – etwa der Link zum Interview-Video mit der Dortmunder „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart oder die Rubrik „Schatzkiste“ über das gedruckte und gebundene Vermächtnis des Revierflaneurs Manuel Heßling.Außerdem verweist der Verein gerne auf seinen Patron Emilie Moawad und die „Weinlounge Le Baron“: Sie bietet mittwochs bis sonntags einen Abholservice für kalte und warme Speisen an – und natürlich eine große Auswahl an Weinen, 0208 - 88 48 970.
Was hören die „Verschiebe-Weltmeister“ von ihren verhinderten Gästen, den Literaten? „Sie versuchen, die lesungsfreie Zeit zu nutzen“, sagt der Literaturhaus-Vorsitzende. Ralph Hammerthaler, der – auch dank Hilfe des Oberhausener Vereins – gerade seinen großen Ruhrgebiets-Roman vollendet, habe erkannt: „Noch nie lief so viel über Stipendien.“ Rainer Piecha hörte von Autoren „wie schmerzlich ihnen der direkte Kontakt zum Publikum fehlt“. Auf die Frage, ob sie zur Marktstraße 146 kämen, wenn sie denn dürften, war die Antwort stets: „Selbstverständlich“.
„Wir sollten mal stärker mit der Politik ins Gespräch kommen“, meint Hartmut Kowsky-Kawelke. Einen ersten Anlauf hatte die Pandemie abrupt beendet. Auch im Programm des Literaturhauses sollten Corona und die Folgen zum Thema werden. „Das Modell Abschotten ist nicht zukunftsfähig“, sagt Rainer Piecha. Und der Vereinsvorsitzende zitiert Maximilian Janetzki, den jungen Macher von „Indie Radar Ruhr“, mit der Frage: „Wann haben wir eigentlich das Verwalten verlernt?“
Das „lose Ende“ des Jugend-Literaturpreises
Die pandemiebedingt „losen Enden“ im sonst so eifrigen Wirken der Literaturhäusler zählt Rainer Piecha auf: An die Ausschreibung des zweiten Jugend-Literaturpreises sei nicht zu denken, so lange die Schulen keinen Normalbetrieb kennen. Mit dem neuen Partner Wortlaut Ruhr waren fünf Termine geplant – man verschiebt immer noch den ersten. Und der vielfach preisgekrönte Filmemacher und Poet Rainer Komers sollte im Mai gemeinsamer Gast von Literaturhaus und Kurzfilmtagen sein: Aber noch steht das Traditionsfestival vor der schweren Entscheidung, ob „hybride“ 67. Kurzfilmtage, sowohl online als auch vor Ort, überhaupt möglich sind.
So setzen die unfreiwilligen Termin-Jongleure denn für den Freitag nach Ostern, am 9. April, auf einen „Joker“. Dann möchte Harald Obendiek vom Literaturhaus-Vorstand dem zackigsten Symbol des preußischen Militarismus nachspüren: „Von der Pickelhaube zum Stahlhelm“. Und bis zum zweiten Termin, dem „Leseclub-Festival“ am Welttag des Buches, 23. April, wächst vielleicht die Hoffnung auf eine Freiluft-Lesung und Diskussion mit Asal Dardan. Der in kleinen Formaten aufblühende Kultursommer 2020 hatte ja auch früh angefangen.