Oberhausen. Das hochklassige Programm des ersten Quartals ist im Lockdown nicht verblichen: Die vielversprechenden Gäste kommen gerne im Sommer

Es klingt schon herbe sarkastisch, wenn der Vorsitzende den Vereinsmitgliedern des Literaturhauses kundtut: „Und weiter geht’s im Streichkonzert.“ Schließlich hatten die Aktiven um Hartmut Kowsky-Kawelke – tollkühn muss man schon sagen – bereits ein prächtiges erstes Quartalsprogramm für ihr Domizil an der Marktstraße 146 ausgearbeitet. Und zwar eines, das schon am 6. Januar hätte starten sollen.

Es kamen der winterliche Lockdown und die Verlängerung des Lockdowns. Und was als Hilfe für den Literaturhaus-Patron Emile Moawad gedacht war, nämlich die für heute avisierte Folge der im Herbst so genussvoll gestarteten Reihe „Erlesenes Speisen", nun mit "Katrin Nowak liest Haruki Murakami” darf ebenfalls nicht stattfinden. „Wir haben die starke Vermutung“ da ist Kowsky-Kawelke nicht alleine, „dass auch die restlichen Februar-Veranstaltungen gecancelt werden, wollen sie aber nicht im vorauseilenden Gehorsam absagen“.

Literaten-Aufgebot mit Bestseller-Qualitäten

Dennoch gibt’s für den starken Programmstart ins Jahr 2021 einen Plan B – und der darf durchaus Vorfreude wecken. Denn auf einen Wechsel ins Digitale, wie ihn das Interview des Journalisten Kowsky-Kawelke mit der Dortmunder „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart für den beliebten „Kultur Kucken“-Kanal des Oberhausener Kulturbüros präsentierte, wollen sich die Literaturhäusler nicht allein verlassen. Dazu schätzen sie viel zu sehr das „Live“-Flair in ihrem Domizil neben der Weinlounge „Le Baron“ – oder draußen an Tischen auf der Marktstraße.

Genau dies nämlich ist auch der Coup für das mutmaßlich bis in den März vom Lockdown vermasselte Literaten-Aufgebot, einige mit Bestseller-Qualitäten. Wie im Vorjahr wollen die Literaturhaus-Aktiven nötigenfalls auf eine Sommerpause verzichten – und haben sich mit ihren Gästen bereits auf alternative Termine im dritten Quartal verständigt. Open-Air-Plätze für die Lesestunden im Abendlicht hatte die Stadtverwaltung 2020 erfreulich umstandslos genehmigt.

Über stille Bergpfade ins rettende Belgien

So muss also kein Bücher-Begeisterter dem „verblichenen“ Januar-Termin mit Norbert Scheuer nachtrauern. Seine „Winterbienen“ sind auch im Sommer spannender Stoff aus einem vermeintlich weltenfernen Winkel der Eifel: Scheuers Held ist ein wegen seiner Epilepsie zur NS-Zeit aus dem Schuldienst entlassener und zwangssterilisierter Lateinlehrer, der sich nun mit der Imkerei das Geld für seine Medikamente verdient. Um des Geldes willen lässt er sich auch überreden, Verfolgte über stille Bergpfade ins rettende Belgien zu schmuggeln.

Wie der Weg aus der jüngeren deutschen Diktatur in die gesamtdeutsche Demokratie einen hochgebildeten Menschen zum „Wutbürger“ deformiert, davon erzählt Ingo Schulze in seinem Roman „Die rechtschaffenen Mörder“. Der 58-jährige Dresdner, der im Oberhausener Café der Ruhrwerkstatt bereits zweimal zu Gast war, zeigt in seinem kontrovers aufgenommenen Werk den Wandel des Antiquars Paulini vom still widerständigen Intellektuellen der DDR-Zeit zum mit Pegida und Konsorten sympathisierenden Vater eines Jungnazis. Auch für diese Lesung, angekündigt für den 19. Februar, gilt die Sommer-Option.

In einer Liga mit Herrndorfs „Tschick“

Nicht nur Belletristik, sondern auch ein preisgekröntes Sachbuch stellt das Literaturhaus vor (wenn nicht am 26. Februar, dann halt im dritten Quartal): Die Historikerin Bettina Hitzer erkundet mit „Krebs fühlen“ eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Das imposant aufgefächerte Werk, das auch der Wissenschaftspolitik und ihren Forschungsetats nachspürt, zeichnet sich sprachlich durch erfreuliche Klarheit und Verständlichkeit aus.

Sarah Jäger, die zunächst für den 12. März eingeladene Essener Autorin, sieht Gastgeber Hartmut Kowsky-Kawelke mit ihrem Debütroman bereits in einer Liga mit Wolfgang Herrndorfs „Tschick“. Auch Jägers Erzählung von einer Clique Jugendlicher, „Nach vorne, nach Süden“, entwickelt sich zu einem literarischen Roadmovie. „Wunderbare Typen, die reisen und etwas erleben“, so der begeisterte Literaturhaus-Vorsitzende mit Understatement.

Gäste, die einen besonderen Eindruck an der Marktstraße 146 hinterlassen haben, lädt sich das Literaturhaus gerne ein zweites (oder sogar drittes) Mal ein: Das gilt auch für Michael Kumpfmüller, dessen „Die Herrlichkeit des Lebens“ vom todkranken Franz Kafka erzählte und wohl keinen Zuhörer unberührt ließ. Mit „Ach, Virginia“ widmet er sich den letzten Tagen der größten Lebensmüden der englischen Literatur. Und folgt man den Rezensionen, so zeichnet sich auch sein Blick auf das Sterben der Virginia Woolf durch feinstes Einfühlungsvermögen aus. Ein krönender Quartalsabschluss im Literaturhaus – ob am 26. März oder zum Ende des Sommers.