Gelsenkirchen. Warum die Gelsenkirchenerin Monika Schmidt den Künstler einst nach Hause kutschierte. Und wieso ihr gar nicht wohl dabei war.
Die Feuilletons sind voll von ihm in diesem Jahr seines 100. Geburtstags: Obwohl Joseph Beuys 1986 starb – als Popstar unter den Künstlern gilt er immer noch. An jenem 24. Juli 1976 freilich nahm Monika Schmidt ihn gar nicht so wahr, als er mit einer Magenverstimmung auf der Rückbank ihres Autos saß. Zu groß war damals ihre Angst, die holprige, kurvenreiche Fahrt durch das Bergische Land könnte dem Erfinder der „sozialen Plastik“ so zusetzen, dass die Sitzbezüge irreparablen Schaden nähmen.
Ehrfurcht vor Beuys, nein, die hatte sie allerdings auch nicht, als sie ihm einige Stunden zuvor erstmals begegnet war auf dem 70. Geburtstag von Professor Ernst Oberhoff (1906-1980), Dozent an der Werkkunstschule Wuppertal, wo auch ihr Mann, Zeichner und Werbedesigner Alfred Schmidt (1930-1997), studiert hatte. Sich in der Kunst-Szene zu bewegen, war für die Grafikerin selbstverständlich.
Beuys schlug Zuhörer mit seiner assoziativen Erzählweise in seinen Bann
Dass Beuys Charisma hatte und mit seinem assoziativen Erzählstil die Zuhörerinnen und Zuhörer in seinen Bann schlagen konnte, das spürte Monika Schmidt aber auch schon an jenem Abend in Wuppertal. „Er war wirklich ein Seelenfänger. Innerhalb kürzester Zeit waren alle Blicke auf ihn gerichtet, dabei redete er immer schneller“, erinnert sich die Künstlerin, die 1975 mit ihrem Mann von Düsseldorf nach Gelsenkirchen zog und mit Tochter Kira auch nach dessen Tod dort blieb.
Dafür ist die Geburtstagsparty von Oberhoff so gut wie aus ihrem Gedächtnis verschwunden, war sie für die gebürtige Bremerin und ihren Mann doch ziemlich schnell vorüber: „Der Professor bat uns, Beuys wegen seiner Magenverstimmung nach Hause zu fahren, weil wir die einzigen waren, die ebenfalls in Düsseldorf wohnten.“ Da das Paar regelmäßig bei Oberhoff eingeladen war, habe es die abrupte Heimreise recht gelassen hingenommen. „Beuys war ja ein Studienfreund meines Mannes, da konnten wir ihn doch nicht hängenlassen.“
Mit Übelkeit und Magenkrämpfen auf der Rückbank
Während der berühmte Künstler anfangs noch mit Übelkeit und Magenkrämpfen zu kämpfen hatte („betrunken war er nicht!“), wurde er im Laufe der Autofahrt immer munterer, so Monika Schmidt. „Als wir vor seinem Atelier in Düsseldorf stoppten, ging es ihm wieder so gut, dass er uns zu einer kleinen Besichtigung der Räume einlud und uns Kaffee kochte.“ Sie tauschten sich über Künstlerisches und seine Arbeiten aus, weiß die Wahl-Gelsenkirchenerin noch.
Für Beuys war jeder Mensch ein Künstler
Joseph Beuys wäre am 12. Mai dieses Jahres 100 Jahre alt geworden. Der Aktionskünstler, Bildhauer, Zeichner, Kunsttheoretiker und Professor an der Kunstakademie Düsseldorf war ein vehementer Vertreter eines erweiterten Kunstverständnisses, wonach jeder Mensch ein Künstler sei und Kunst hervorbringen könne.
Da war es nur konsequent, dass er 1971 als Hochschul-Dozent alle Bewerber zum Kunststudium zuließ. Als er dies 1972 wiederholte, wurde er 1972 fristlos entlassen.
In der Zeit danach verlagerte sich der Lebensmittelpunkt des Paares allmählich ins Ruhrgebiet, wo Künstler Schmidt den schweren Berufsalltag der Bergleute unter Tage porträtierte. „Ich selbst habe Joseph Beuys nie wieder gesehen, im Gegensatz zu meinem Mann, der auch der Fluxus-Bewegung locker verbunden blieb.“ Dieser traf ihn etwa bei der Beerdigung von Oberhoff (1980), „da war die alte Truppe von Beuys, Wolf Vostell und meinem Mann dann wieder zusammen.“
Beuys erweiterter Kunstbegriff ist für die Gelsenkirchenerin noch immer ein Leitspruch
Wie dieser zu den Aufsehen erregenden Kunst-Aktionen von Beuys stand, bei denen Beuys einen toten Hasen über die Bühne trug? Und wie sie selbst dessen Fettecken-Arbeiten empfand? „Er wollte damit verkrustete Strukturen aufbrechen. Darin steckt mehr Tiefsinn und Gesellschaftskritik, als es so manchem scheinen mag“, sagt die Grafikerin. Und: „Er hatte sehr viel Humor und machte sich einen Spaß daraus, mit den Erwartungen seines Publikums zu spielen.“
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Denn auch wenn sie Beuys selbst nie mehr begegnete, aus den Augen verlor sie den beeindruckenden Mann mit der charakteristischen Anglerweste und dem Hut nie (auf Oberhoffs Geburtstagsparty war er damit jedoch nicht erschienen). „Ich habe schon verfolgt, wie er sich künstlerisch weiterentwickelte und etwa nach seinem Tod eine große Retrospektive in der Bundeskunsthalle in Bonn besucht. Bei so manchem Exponat, wie einem Päckchen ,Hasenzucker’, musste ich herzhaft lachen.“
Und mit dem erweiterten Kunstverständnis, das Beuys gemeinsam mit Studienfreunden entwickelt hatte – dass eben jeder auch ohne entsprechende Vorbildung ein Künstler sein könne – sprach die Gruppe Monika Schmidt aus dem Herzen. „Unser künstlerisches Konzept des Schalthauses auf der einstigen Zeche Bergmannsglück beruhte genau darauf. Wir haben Jugendlichen die Möglichkeit gegeben, sich etwa musikalisch oder tänzerisch zu entfalten. Unser Leitspruch war immer: ,Kunst ist Lebensmittel’.“ So sieht sie es nach wie vor – und da ist der Popstar Joseph Beuys doch immer noch gegenwärtig.
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