Oberhausen. Ludmila Soroka hat ihre Heimat verlassen, weil sie sonst gestorben wäre. In Igor Arseniev fand sie einen Unterstützer für Menschen in großer Not.

Es ist in diesen Tagen nicht einfach, Igor Arseniev zu fassen zu bekommen. Früh am Morgen hat er zwei Frauen aus der Ukraine zu einem Arzttermin begleitet. Kurz darauf meldet er sich aus dem Jobcenter. „Sobald wir hier alles geregelt haben, müssen wir nur noch zur Krankenkasse – dann habe ich Zeit für ein Gespräch“, meldet er sich am Telefon. Der Oberhausener, der selbst gebürtiger Ukrainer ist, hilft gerade unermüdlich, wo er nur kann. Wer vor dem Krieg geflüchtet ist und dazu noch krank, braucht eine besondere Zuwendung und Betreuung, meint er. Denen, die doppelt gestraft sind, will er helfen, so gut er kann. Dabei hat er mit denselben Dienstleistungen, die er zurzeit ehrenamtlich anbietet, bis vor einigen Wochen noch sein Geld verdient. Unwichtig, findet er. Denn es herrscht Krieg in seinem Heimatland.

„Medizin-Tourismus“ – Igor Arseniev mag das Wort nicht besonders. Aber es beschreibe nun einmal international verständlich, was er mit seiner Firma Medoskop anbietet: die Unterbringung von Patienten aus den ehemaligen Sowjetstaaten, inklusive persönlicher Betreuung, Begleitung, Übersetzungen. Seit vielen Jahren schon hat der 51-Jährige dies neben seiner Arbeit als Krankenpfleger im Elisabeth-Krankenhaus gemacht. Mit so großem Erfolg, dass er vor fünf Jahren den Job quittierte und sich seitdem komplett der Organisation von Patientenaufenthalten widmet. Zusammen mit seiner Frau Olga versorgen sie ihre Gäste, stellen Kontakte zu Ärzten und Kliniken her, kümmern sich um alles rund um die Operationen oder Behandlungen.

Kriegsgeflüchtete in Oberhausen: Die Familie stand vor der Tür; in Schlappen, mit Hund

Nach den Corona-Einschränkungen hatte sich seine Firma gerade erst wieder einigermaßen erholt, die Geschäfte liefen wieder gut. Bis zum 24. Februar, dem Tag des völkerrechtswidrigen Angriffes Russlands auf die Ukraine. Der Krieg brachte den kompletten Stillstand.

Und dennoch: Als sie vom Angriff Russlands auf die Ukraine erfuhren, haben er und seine Frau, eine gebürtige Russin, keine Sekunde gezögert. Er holte Menschen vom Bahnhof ab, manchmal standen sie auch schon vor ihrer Haustür, jemand hatte den Schutzsuchenden die Adresse gegeben. Einmal war es eine fünfköpfige Familie mit Hund, in Schlappen. Granatsplitterschäden am Auto und das Wort „Kinder“ groß auf die Motorhaube geschrieben. „Meine Frau hat wochenlang eimerweise gekocht“, beschreibt der Familienvater die erste Zeit. Sie öffneten ihr Haus, vermieteten eine Eigentumswohnung an eine ukrainische Familie.

Kampfflugzeuge schießen um 5.30 Uhr über das Haus

Ludmila Soroka war mittendrin, als der Krieg ausbrach. Die 43-Jährige lebt in Uman, einer kleinen Stadt im Osten der historischen Region Podolien. Erst hörten sie und ihr Mann, wie ein Militärlager in der Nähe bombardiert wurde. Die Kampfflugzeuge schossen um 5.30 Uhr durch die Luft über ihrem Haus. Dann schlugen plötzlich auch Bomben in Häusern ein. „Sobald wir den Alarm hörten, mussten wir in den Keller.“ Die Mutter einer 23-jährigen Tochter war verzweifelt. Sie ist an Krebs erkrankt und stand kurz vor einer Chemotherapie. An Medikamente konnte sie nicht mehr herankommen. „Plötzlich war ich ganz alleine mit meiner Krankheit“, sagt sie. Freunde hätten ihr gesagt: „Wenn du überleben möchtest, fahr’ zum Arseniev“.

Igor Arseniev hat tolle Ärzte für Ludmila Soroka gefunden, erzählt er. Ärzte, die sie ohne zu zögern und noch ohne, dass die nötigen Unterlagen vorlagen, behandelt hätten. Und nicht nur das: Manche riefen an, fragten, wie es Frau Soroka gehe; Arzthelferinnen erkundigten sich, ob sie genug esse und trinke. Auch im Evangelischen Krankenhaus sei die Aufnahme unglaublich herzlich gewesen, die Krankenschwestern ganz toll. „Das, was die Menschen in Deutschland gerade machen, schockiert mich“, sagt Arseniev. Er meint es positiv, er ist überwältigt. Die Eltern der Kinder im Judo-Team Holten, wo zwei seiner drei Söhne trainieren, hätten so viele Dinge gespendet, dass das Erdgeschoss seines Hauses komplett zugestellt war. Die Leiterin der städtischen Notunterkunft, Mesude Tavukcu, sei so „unfassbar hilfsbereit“, es gebe kaum Worte dafür. „Sie ist eine türkische Mutter Theresa“, schwärmt er.

Das Einzige, was Arseniev das Leben schwer macht: die Bürokratie. Erst zum Jobcenter, dann zur Krankenkasse, dann wieder zum Jobcenter und wieder zur Kasse – und das alles an einem Tag, mit einer schwerkranken Frau, die dringend behandelt werden muss. „Das geht doch nicht“, sagt er. Im Sozialamt im Rathaus habe man ihm letztendlich geholfen, „eine tolle Organisation“.

Alleine im fremden Land: Chemotherapie, Luftnot, Panikattacken

„Ich bin so dankbar“, sagt Ludmila Soroka. Seit ihrer Ankunft in Deutschland habe sie nur freundliche, hilfsbereite Menschen kennengelernt. Ein Trost in dieser so schweren Zeit, in der sie mit ihrer Chemotherapie, der Luftnot, den Panikattacken ohne ihre Familie zurechtkommen muss. Ihr größter Wunsch sei nun, gesundheitlich so stabil zu werden, dass sie wieder nach Hause reisen kann. Zu ihrem Mann, der die Ukraine nicht verlassen darf wie alle Männer im wehrfähigen Alter. Und zu ihrer Tochter, die geblieben ist, weil sie als Apothekerin gerade dringend gebraucht wird. Ludmila Soroka schaut traurig und ernst. „Wenn ich zurück bin“, sagt sie, „dann werde ich als Erstes den Boden küssen.“

40 Menschen betreuen die Arsenievs zurzeit in Oberhausen, darunter ein Mädchen mit einer Zyste im Kopf, die in Gelsenkirchen operiert werden konnte, und eine Frau, die während der Flucht in Polen ertastete, dass ihr Brustkrebs zurückgekehrt war. Nebenbei sammeln die Arsenievs Spenden, kaufen Medikamente und schicken sie mit Rückkehrern ins Kriegsgebiet. „Geld würde ich aber nie hinschicken“, sagt er, „Das könnte für Waffen und Munition verwendet werden.“

Nächstenliebe ist selbstverständlich

Igor Arseniev hat Verständnis für seine ehemaligen Landsleute. Dafür, dass sie sich wehren, dass sie kämpfen, dass sie ihre Angreifer hassen. Doch für ihn ist das alles keine Lösung. „Ich bin Pazifist“, sagt er. „Ich verurteile den Krieg. Und ich hoffe, dass ich meine Kinder niemals zum Militär schicken muss.“ Als ukrainisch-russisches Ehepaar wollen sie weiterhin zeigen, dass Nächstenliebe selbstverständlich ist. Dass jeder gibt, so viel er kann.

Igor Arseniev ist dabei bald am Ende seiner Kräfte. „Mal sehen, wie lange ich das alles noch schaffe.“ Doch bis dahin ist für ihn ganz klar, dass er hilft. Jedem, der Hilfe braucht. Bei den Menschen aus der Ex-Sowjetunion sieht er es als seine Pflicht, weil er ihre Sprache spricht. „Aber auch andere haben es verdient“, sagt er. „Auch Syrer fliehen vor Bomben und Raketen.“