Gelsenkirchen. Das erste Jahr im Amt stand auch für Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin im Zeichen von Corona. Wie zufrieden ist Karin Welge mit ihrer Arbeit?

Ende Mai erklärte Karin Welge im WAZ-Interview, wie sie als Oberbürgermeisterin arbeiten und wirken will, das sie „kein Typ für Propaganda-Sprüche und große Ankündigungen“ sei und den Fokus erst einmal darauf legen wolle, dass ein nachhaltiger Strukturaufbau in Gelsenkirchen gelinge. Nun, sieben Monate später, beantwortet Karin Welge erneut die Fragen der WAZ Gelsenkirchen und blickt auf ihr erstes Jahr im Amt zurück.

Frau Welge, Sie waren selbst kürzlich mit Corona infiziert. Wie geht es Ihnen inzwischen?

Gut, danke. Zum Glück hatte ich nur leichte Symptome, da ich doppelt geimpft bin, und konnte aus dem Homeoffice arbeiten.

Frau Welge, die Pandemie beherrscht nach wie vor unseren und auch Ihren Alltag. Wie hat sich Corona auf Ihr erstes Jahr als OB ausgewirkt?

Corona war das ganze Jahr über ein bestimmendes Thema, auch in den Phasen mit niedriger Inzidenz. Niemand wusste: Bleibt es so? Kippt es wieder? Was passiert bei einer neuen Virus-Variante? Die Pandemie hat sich deshalb auch auf meine Amtsführung sehr stark ausgewirkt. Immer wieder standen coronaspezifische Aufgaben an wie die Umsetzung der häufig wechselnden Regeln von Land und Bund durch unsere Verwaltung, der Aufbau unserer Impfangebote, die intensive Kommunikation mit allen Beteiligten und der Öffentlichkeit. Zudem musste sich die Verwaltung auf die Zusammenarbeit und das Führen auf Distanz umstellen – auch da ist eine Verwaltungschefin natürlich gefragt. Bei all dem musste ich leider oft auf direkte Begegnungen verzichten. Das hat den intensiven Austausch zu einigen Themen und die strategische Neuausrichtung an der ein oder anderen Stelle nicht eben erleichtert. Seien wir ehrlich: Eine Stadt regiert sich gut und erfolgreich, wenn das Gespräch und der Dialog im Mittelpunkt stehen. Corona ist leider ein Gegner, den man zum jetzigen Zeitpunkt kaum bezwingen, sondern nur clever und solidarisch in Schach halten kann.

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Welche Begegnung, welches Thema ist Ihnen aus diesem Jahr besonders in Erinnerung geblieben? Woran möchten Sie lieber nicht zurückdenken?

Hunderte Menschen setzten nach den antisemitischen Parolen bei einer Israelfeindlichen Demonstration in der Gelsenkirchener Innenstadt ein Zeichen gegen Antisemitismus.
Hunderte Menschen setzten nach den antisemitischen Parolen bei einer Israelfeindlichen Demonstration in der Gelsenkirchener Innenstadt ein Zeichen gegen Antisemitismus. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Woran ich am liebsten nicht zurückdenken möchte, was wir aber nicht vergessen dürfen, das sind die antisemitischen Parolen vor der Synagoge im Mai. Diese Szenen haben mich bestürzt und wütend gemacht. Das wirkt nach. Für solche Bilder darf Gelsenkirchen nicht stehen! [Zum Thema: „Nie wieder“ ist kein leeres Versprechen, Antisemitismus keine Meinung! - Ein Kommentar] Das ist eine enorme Herausforderung für unsere gesamte Gesellschaft. Wir haben die Bildungsarbeit zum Thema Antisemitismus und Rassismus ausgeweitet, und wir suchen noch weitere Partner, die uns bei dieser Arbeit tatkräftig unterstützen. In Erinnerung geblieben ist mir aber auch die Begegnung mit Charlotte Knobloch, eine fast 90-jährige, beeindruckende Frau, klug und vital, die sich ihr Leben lang für jüdisches Leben in Deutschland und für das gute Zusammenleben in unserem Land eingesetzt hat. Und besonders in Erinnerung geblieben sind mir mehrere Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener höheren Alters, die sich wirklich sehr bewegend dafür bedankt haben, dass sie geimpft werden konnten und wir sie zum Impfzentrum gebracht haben.

Was verbuchen Sie als Ihre größte Leistung in diesem Jahr, worauf sind Sie besonders stolz? Und was ist Ihnen nicht so gelungen, wie Sie es sich eigentlich vorgestellt haben?

Dass wir in Gelsenkirchen ohne größere gesellschaftliche Verwerfung gemeinsam bis hierhin durch die Pandemie gekommen sind, halte ich für eine Leistung, zu der wir uns alle beglückwünschen dürfen. Natürlich gab es Rückschlage und Einzelschicksale, die wir begleitet haben und auch betrauern mussten, aber unsere Stadtgesellschaft ist nicht auseinandergebrochen.

Da Sie in Ihrer Frage auf eine individuelle Leistung abzielen, will ich hinzufügen: Ich halte gute Politik für einen Mannschaftssport und verstehe mich selbst als Teil einer Mannschaft. Ich bin Teamworkerin. Ich will, dass alle Stimmen gehört werden und kreative, erfolgversprechende Ideen aus jeder demokratischen Ecke unserer Stadt kommen dürfen, ja sogar sollen. Wir alle sind die Stadt! Dass wir im Rat derzeit eine deutliche Tendenz hin zu einer besseren Zusammenarbeit sehen, das halte ich deshalb für eine sehr erfreuliche Entwicklung. So haben wir für das Jahr 2022 einen Haushalt verabschiedet, der von SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP verabschiedet wurde – ich weiß nicht, ob es das schon mal gab. Wir haben die Bewerbung um die neue Hochschule für Polizei und Verwaltung auf den Weg gebracht und uns dafür mächtig zur Decke gestreckt. Die ressortübergreifende Arbeit, die ich mit der Schaffung so genannter ressortübergreifender Stabstellen bereits vor Jahren als Sozialdezernentin implementiert habe und die heute Blaupause in NRW ist, bauen wir auch für andere wichtige städtische Aufgaben weiter aus.

Sie sprechen oft davon, dass „wir alle gemeinsam Verantwortung tragen, Gelsenkirchen voranzubringen“, also von Kooperation, von Solidarität, davon, miteinander und nicht gegeneinander zu wirken. Das bedeutet auch, dass die Verwaltung Partnerin der Bürgerinnen und Bürger und Unternehmerinnen und Unternehmer sein muss. Wie weit ist „Ihr Haus“ da? Wo bekommen Sie den größten Verbesserungsbedarf gespiegelt?

Ich denke, dass die Stadtverwaltung für die Bürgerinnen und Bürger da ist, das haben die Menschen im vergangenen Jahr gespürt, wahrscheinlich noch ein bisschen mehr als sonst. Die Verwaltung hat in komplizierten Zeiten sehr viel geleistet und war eine absolut verlässliche Größe. Das konnten 2021 nicht alle Institutionen von sich sagen. Schulen mussten häufiger gereinigt werden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitsamt und den Pflegeeinrichtungen waren enorm gefordert, die Umstellung auf Homeoffice musste klappen und hat geklappt – all das waren und sind Herausforderungen. Ich bin dankbar für die gute Arbeit, die viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geleistet haben! Dass wir auch Verbesserungsbedarf haben, das stimmt natürlich. Wir können an etlichen Stellen digitaler und schneller werden, viele Systeme besser aufeinander abstimmen, Daten besser nutzen und weitergeben. Das ist eine große Aufgabe.

Werfen wir einen Blick voraus: Was sind Ihre Projekte für 2022, welche Themen sind Ihnen besonders wichtig im kommenden Jahr?

Ich möchte drei Themenblöcke nennen: Bildung, ökologische Transformation, Zusammenhalt. Zuerst zur Bildung: Wir bauen gerade acht neue Schulen, und das ist – nachdem wir in Gelsenkirchen 40 Jahre lang keine Schule errichtet haben – ein echter Kraftakt und eine enorme Zukunftsinvestition! Wir hoffen, die Vergabe der Hochschule für Polizei und Verwaltung für uns zu entscheiden, das kann auf eine deutliche Verbesserung des Bildungsstandortes Gelsenkirchen hinauslaufen. Außerdem planen wir mit dem Bildungscampus eine Neuaufstellung der Beruflichen Bildung in Gelsenkirchen – auch das ein Projekt, das einen starken Effekt haben kann. Weitere Kooperationsmodelle mit der Westfälischen Hochschule sind in Arbeit. In der Summe ist da eine echte Bildungsoffensive im Gang!

Das zweite Thema?

Das zweite Thema ist die ökologische Transformation: Wir setzen in Gelsenkirchen an vielen Stellen die Klima- und Energiewende um. Viele Unternehmen reduzieren ihre Emissionen, mit dem Klimahafen planen wir ein spannendes Modellprojekt zur Umrüstung von Industrieanlagen mit der Perspektive auf Wasserstoff. Und wir arbeiten gerade an einem neuen Klimakonzept, das wir 2022 vorstellen werden, den Gelsenkirchener Pfad zur Klimaneutralität. Damit stellen wir die Weichen für die Zukunft!

Und unter „Zusammenhalt“ verstehen Sie...?

„Ich halte gute Politik für einen Mannschaftssport und verstehe mich selbst als Teil einer Mannschaft. Ich bin Teamworkerin“, sagt Oberbürgermeisterin Karin Welge, hier bei der Vorstellung der neuen Trikots der Stadt-Fußballmannschaft.
„Ich halte gute Politik für einen Mannschaftssport und verstehe mich selbst als Teil einer Mannschaft. Ich bin Teamworkerin“, sagt Oberbürgermeisterin Karin Welge, hier bei der Vorstellung der neuen Trikots der Stadt-Fußballmannschaft. © Unbekannt | Moritz Brilo

Und drittens ist für mich 2022 entscheidend, wie wir unser Zusammenleben erneuern, wie es uns gelingt, unser Miteinander weiter lebendig und solidarisch zu gestalten, trotz der Belastungsprobe, die wir gerade durchlaufen – zumal wir ja nicht wissen, wie sich Omikron oder möglicherweise noch eine andere Virus-Variante auswirkt. Wir müssen und werden genau hinschauen: Was brauchen die Vereine, Initiativen und was die Stadtgesellschaft insgesamt? Was stärkt das Miteinander und das öffentliche Leben? Ich habe mehrfach gesagt: Corona ist ein Kraftakt! Die weitere Bewältigung der Krise und der Neustart nach der Krise werden uns ebenfalls einiges an Kraft abverlangen. 2022 geht nur mit Mut, Intelligenz und gutem Gespür für einen individuellen, machbaren Gelsenkirchener Weg, der uns aus der Krise in die Zukunft führt.

Zwei neue Dezernenten kommen, Luidger Wolterhoff hat im Laufe das Ressort gewechselt und ist Kämmerer geworden. Ist Ihr „Regierungsteam“ jetzt komplett? Was dürfen die Gelsenkirchener von Ihnen allen zusammen erwarten?

Ab Januar sind alle Beigeordneten an Bord und der Verwaltungsvorstand wieder vollständig. Das ist gut so, darauf haben wir über ein Jahr warten müssen, und damit erhöht sich natürlich unsere Schlagkraft. Wir haben jetzt zum ersten Mal überhaupt einen von Frauen und Männern gleich besetzten Verwaltungsvorstand. Ich freue mich auf eine gute, von Teamgeist und Engagement getragene Zusammenarbeit mit allen Dezernenten!