Mülheim. Der Energiehunger der Mülheimer Industrie und Haushalte ist riesig. Ließe er sich durch Sonne decken? In der Schublade der Stadt liegt ein Plan.
Der Energiehunger der sympathischen Ruhrstadt ist weiterhin ungeheuer: Rund 4,170 Millionen Megawattstunden (MWh/a) allein im Jahr 2019 hat Mülheim in der Industrie, in Privathaushalten und im Verkehr benötigt – erzeugt durch hauptsächlich Gas, aber auch fossile Kraftstoffe und Strom. Erneuerbare Energien haben in diesem Mix bislang nur eine marginale Rolle gespielt. In Zeiten steigender Energiepreise und -abhängigkeiten von kriegsführenden Diktaturen aber blickt Mülheim erneut auf seine Freiflächen – für Sonnenstrom.
„Die bisherigen Hürden, die den Ausbau erneuerbarer Energie in den Kommunen gebremst haben, werden in Kürze fallen“, damit rechnet der bald scheidende Umweltdezernent Peter Vermeulen. Abstandsregeln von Windkrafträdern werden schrumpfen, Vergütungen von Strom oder Fördermittel als Anreiz für Photovoltaikanlagen wieder steigen. Und er ist vorbereitet. Der „Nachlass“ des gelegentlich für seine Energie- und Klimamaßnahmen kritisierten Dezernatschefs hat es in sich: eine Potenzflächenanalyse über mögliche Freiflächenphotovoltaikanlagen, die nach dem Erneuerbare-Energie-Gesetz (EEG) förderfähig wären.
Mülheim könnte mit Sonnenstrom alle Haushalte und einen Teil der Industrie versorgen
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Federführend hat sie Ulrike Marx erarbeitet. Der Analyse der Leiterin der Stabsstelle Klimaschutz und Klimaanpassung zufolge, hätte Mülheim sogar massig Freiflächen für Lindner’sche „Freiheitsenergie“: Insgesamt 315 Hektar an kleinen, mittleren und großen Gebieten könnten wohl an die 200.000 Megawattstunden im Jahr Strom über Photovoltaik-Freiflächen erzeugen. Natürlich muss dafür erst Sonne auf die Ruhrstadt scheinen, doch deckte das rechnerisch den Strombedarf etwa der hiesigen Industrie fast zur Hälfte ab (2019: 433.381 MWh).
Hinzu ließe sich noch Strom auf Mülheimer Dächern gewinnen: Potenziell sind hier noch einmal jährlich rund 300.000 Megawattstunden denkbar. Mehr also als das, was die 86.970 privaten Haushalte in der Stadt jährlich verbrauchen (2019: 272.710 MWh). Gemessen daran, dass der Anteil der erneuerbaren Energieträger in Privathaushalten bei gerade einmal 28.803 Megawattstunden (2019) liegt, wäre die Verzehnfachung bereits ein Meilenstein. In der Industrie steht dieser Anteil übrigens bei null.
Potenzielle Photovoltaikflächen gibt es überall in der Stadt
Wo aber liegen jene Flächen, die eine solche Entwicklung anschieben könnten? Die gute Nachricht: So gut wie überall in der Stadt. Randstreifen an Autobahnen im Norden, Brachen und Freiflächen im Süden und Gewerbeflächen im Westen und Osten, sogar Parkplätze hat die Stadt als potenzielle Orte ausgemacht, auf und über denen Photovoltaikanlagen entstehen können. Dezentral verteilt und damit direkt vor Ort nutzbar.
„Auf Parkflächen fangen Anlagen dort die Sonne ab, wo man sie nicht will, und werfen Schatten auf das Auto, um es vor Überhitzung zu schützen. Gleichzeitig erzeugen sie Strom“, erläutert Vermeulen den doppelten Vorteil.
203 kleine Flächen bis zu 1,5 Hektar – schon das sind 15.000 Quadratmeter – hat Marx ausfindig gemacht. Sie können jeweils bis zu 750 Kilowattpeak (kWp) erzeugen. 25 mittlere Flächen mit bis zu drei Hektar können je bis zu 1500 kWp erzielen. 24 große Flächen über drei Hektar können entsprechend mehr Ertrag liefern. Sie machen übrigens auch den größten Anteil an der Gesamtfläche aus: 135 Hektar. Doch das „Kleinvieh“ macht auch Mist: 125 Hektar oder auch 40 Prozent der Gesamtfläche wären lokal über die Stadt verteilt verfügbar.
81 von 252 möglichen Standorten hat Mülheim genauer ins Visier genommen
In ihrer Auswahl jedoch berücksichtigt die Stadt zunächst 81 potenzielle Standorte, die unter EEG-Förderkriterien am besten geeignet scheinen, betont Vermeulen, mit einer Gesamtgröße von 190 Hektar. Und es sind solche Flächen, gegen die wenig Widerstände zu erwarten wären, denn sie fallen nicht sofort ins Auge, betont Vermeulen.
Am Brückeshof in Styrum etwa – zwischen Friedhof und Autobahn – hat die Stadt selbst eine 3,7 Hektar große Grünfläche, die sich aufgrund der Bodenqualität und der Nähe zur A40 nur bedingt für die Landwirtschaft oder als Wohngebiet eignete. 1,5 Megawatt Peak könnte aber eine Anlage hier erzeugen, das entspricht jährlich etwa 1500 Megawattstunden.
Im Vergleich: Ein Vier-Personen-Haushalt verbraucht im Jahr rund 4000 Kilowatt- oder auch vier Megawattstunden. So wären allein mit dieser Anlage dezentral gut 300 Haushalte zu versorgen.
Stadt: Landwirtschaft und Photovoltaik lassen sich verbinden
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Einige solcher Potenziale für größere Anlagen mit hoher Stromerzeugung sieht die Stadt auch entlang der Autobahn A52. Die Problematik ist allerdings: Die Grundstücke liegen oft in Privatbesitz und werden zum Teil noch landwirtschaftlich genutzt. Ausschließen muss sich die unterschiedliche Nutzung allerdings nicht, wenn man Photovoltaik-Module entsprechend hoch aufständere, sei beides möglich – argumentiert die Stadt – Weizen- und Stromernte.
Dennoch liegt die Analyse schon eine Weile in der Schublade des Umweltdezernats. Denn ein Wesentliches fehlt ihr: die Umsetzung. „Wir müssen sehen, dass wir bei der Frage der Rolle der Stadt unter zahlreichen bundes- und landesrechtlichen Vorgaben stehen, die uns das Feld strukturieren. Letztlich ist die Errichtung von Solaranlagen eine Aufgabe von privaten Investoren. Wir können aber Informationen bereitstellen, die Entscheidungen erleichtern“, erläutert Vermeulen.
Das Problem: Investoren waren bisher wenig investitionsbereit
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Dennoch: Die Bereitschaft bei privaten Investoren blieb zurückhaltend – und dass nicht nur in Mülheim, betont Marx: „Der Markt für Dach-Photovoltaikanlagen ist in der Vergangenheit durch die Bundesgesetzgebung komplett eingebrochen.“ Denn der Bund hatte durch stetig schmelzende Vergütungssätze bei den Einspeisungen eine Wirtschaftlichkeit von Photovoltaikanlagen infrage gestellt.
Der Ukraine-Krieg könnte aber eine Beschleunigung einleiten, glaubt Vermeulen, nicht nur, weil die Preise für Gas und Öl steigen, sondern „weil man sich fragen muss: Ist die Energiesicherung der Zukunft über fossile Brennstoffe überhaupt noch denkbar?“
Steigt also die Akzeptanz für „verschandelnde“ Windräder und Photovoltaik-Felder, könnte der alte Plan in der Schublade des scheidenden Umweltdezernenten einen entscheidenden Beitrag zur Energiewende doch noch leisten. Zwei Schritte dazu fehlen allerdings: Die Politik muss ihn noch diskutieren – und Investoren müssen gefunden werden.
Info: Russisches Gas wird auch in Mülheim gebraucht
Für Umweltdezernent Peter Vermeulen wird in Sachen Wärmeerzeugung die Geothermie eine größere Rolle spielen. Um die Wärme aus der Erde zu beziehen, müsse der Strom optimalerweise über Photovoltaik erzeugt werden.
Ließe sich damit russisches Gas ersetzen? Denn dieses strömt auch in Mülheimer Haushalte. „Vermutlich sogar bis zu 50 Prozent“, sagt Medl-Geschäftsführer Hendrik Dönnebrink. Kontrollieren oder gar verhindern ließe sich das – so Dönnebrink – derzeit kaum, denn Medl wie auch andere Anbieter beziehen ihre Kontingente von Großhändlern.
Ob sich kurz- oder mittelfristig das Gas ersetzen ließe, sieht der Medl-Geschäftsführer skeptisch: „Wir haben in Mülheim viele alte Häuser. Um diese umzurüsten, müsste man zum Teil tief in die Infrastruktur der Gebäude eingreifen.“