Gelsenkirchen. Gelsenkirchen hat als Einkaufsstadt in unserer Umfrage ein vernichtendes Urteil erhalten. Ein Marketing-Experte legt den Finger in die Wunde.
Schlecht haben die Innenstädte in Gelsenkirchen und Buer abgeschnitten bei der jüngsten Befragung unserer Leserinnen und Leser. Grund für die WAZ, mit einem Wirtschaftsexperten für Marketing und Konsumverhalten die beiden Einkaufsmeilen unter die Lupe zu nehmen. Wie das Urteil von Professor Claudius Schmitz von der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen ausfällt.
Marketingexperte und Konsumforscher: Gelsenkirchen bleibt nicht in Erinnerung als Einkaufsstadt
„Gelsenkirchen ist eine Stadt der Kontraste, leider eine ohne Highlights, austauschbar, sie bleibt nicht in Erinnerung haften“, sagt Professort Claudius Schmitz, nachdem er sich Bahnhofstraße und Hochstraße angeschaut hat. Beide Einkaufsstraßen hätten reinen Versorgungscharakter, denen „Freizeitwert und Verweilqualität mangels Cafés, Bistros oder Restaurants fehlen“.
Schmitz zufolge bemisst sich die Attraktivität einer Stadt „genau an eben jenen Einkehrangeboten, wo man sich nach dem Einkaufen noch gemütlich hinsetzen kann“. Und die seien auf Hoch- und Bahnhofstraße doch eher rar gesät. Dem Konsumforscher nach spielt es auch keine Rolle, wenn in den Nebenstraßen solche Cafés und Restaurants zu finden sind, „entscheidend ist das Zentrum“, so der WH-Dozent.
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Bei der jüngsten Umfrage hatte insbesondere die Bahnhofstraße in der Altstadt ein vernichtendes Urteil bekommen: Der Tenor: Zu wenig hochwertige Angebote, zu wenig Atmosphäre, zu viel Müll, zu viele Bettler, Unbehagen. Besser schnitt die Hochstraße in Buer ab, aber auch ihr kreideten Leser mangelnde Attraktivität zum Einkaufen und Verweilen an. Lesen Sie dazu: [Gelsenkirchen – Darum wird die Bahnhofstraße zum Verlierer]
Gelsenkirchener Innenstädte: Das ist dem Wirtschaftsfachmann aufgefallen
Die starken Gegensätze macht Claudius Schmitz vor allem am „architektonischen Wirrwarr“ auf der Bahnhofstraße aus. Buer schneidet für sein deutlich stimmigeres und gepflegteres Gesamtbild von Gebäuden (und deren Fassaden) und Geschäften besser ab.
Die „schießschartenartige Anmutung“ des Primark-Hauses nannte der Experte beispielsweise „hässlich“, das Haus nebst Markise bei Woolworth mit seinem 80er-Charme „gruselig“ und das stark verdunkelnde Solardach am Bahnhofscenter sowie das schmutzig-weiß eingerahmte Kirchenfenster am alten Boecker-Haus mit noch sichtbarem Firmenschriftzug „schäbig“ und „gruselig“ – das widerspreche einem einladenden Entree zur City.
Abstoßend wirkten für Schmitz auch die Fassade des Kaufhofes und Saturn, dazu eine ganze Reihe von bunt verkleideten oder mittlerweile veralgten, ehemals weißen Vordächern. Lesen Sie dazu auch: [Verlorene Innenstädte – das sagen Gelsenkirchens Politiker]
Lob für Gelsenkirchener Unternehmer: Diese Läden könnten in jeder Weltstadt stehen
Im krassen Kontrast dazu stünden nach Auffassung von Claudius Schmitz Gebäude und Geschäfte wie etwa bei Mr. Chicken oder New Yorker, der JD Sportladen, Hunkemöller oder Fielmann. Sauber, modern, offen, einladend, farblich und optisch auf Höhe der Zeit, so lautete das Urteil des Professors. Das Schnellrestaurant und die Modekette bekamen sogar ein Extra-Lob: „In der Aufmachung könnten diese Läden in jeder Weltstadt sein“, so der Konsumforscher.
Stimmiger, gefälliger und einladender ist für den Marketingexperten unter dem Gesichtspunkt Attraktivität zum Einkaufen die Hochstraße in Buer. Zwar rügte Schmitz fehlendes Flair bei dem „schlimmen Klinkerbau“ in Höhe der Alten Apotheke oder bei einem Abstecher zur Seite die Tristesse rund um die Markthallemit Blick auf die ehemalige Tanzschule Seidel, dafür bekamen Gebäude und Läden wie etwa Vera Moda, Nanu Nana, Beckmann oder Blumen Risse ein Lob.
Sowohl im Norden als auch im Süden Gelsenkirchens war Schmitz überrascht und angetan vom Zustand des Pflasters und der Sauberkeit der beiden Haupteinkaufsstraßen. „Da macht die Stadt einen guten Job mit sichtbar viel Aufwand“, so der WH-Professor.
Fazit des Gelsenkirchener Wirtschaftsprofessors: Stadt fehlt Konzept, Marke und Vision
In seinem Fazit kommt Professor Claudius Schmitz dazu, dass „es Gelsenkirchen an einem Konzept und einer Marke fehlt“. Weil fehlende große Ankermieter ohnehin schlecht für die Attraktivität von Innenstädten sind, muss „die Verweilqualität und der Freizeitwert im Zentrum durch Cafés und Bistros mit Außengastronomie deutlich erhöht werden“, so sein Urteil und sein Ansatz. Schmitz sieht in den „insgesamt mehr als 8000 Studenten und Lernenden an der WH und an den Berufskollegs in Gelsenkirchen“ ein noch weitgehend unerschlossenes Potenzial, ihnen müsse man mehr Freizeitangebote machen. Lesen Sie dazu auch: [Gelsenkirchen – Das ist nicht mehr meine Stadt]
Der Wirtschaftsdozent hat dabei Städte wie Düsseldorf oder Haltern am See im Blick, „deren Angebot sich an das jeweilige Motto (Modestadt, Freizeitstadt) koppeln“. Schmitz reklamiert dabei für sich, dass das erfolgreiche Innenstadtkonzept Halterns maßgeblich auf sein Mitwirken zurückgehe. Haltern hat ein riesiges Einzugsgebiet, lockt Erholungssuchende aus nah und fern an.
City-Sofortprogramm guter Ansatz für Gelsenkirchen, es fehlt größerer Wurf
Als einen guten und richtigen Ansatz bezeichnet Claudius Schmitz die jüngste Initiative der Stadt, leerstehende Geschäftslokale jungen Start-Up-Unternehmen anzubieten, um Neuansiedlungen zu befördern. Über das City-Sofortprogramm erhalten Vermieter und Mieter Unterstützung. Auch dem SEG-Konzept, über das Gelder aus der Vermarktung des Buerschen Waldbogens in die Wiederbelebung der Bochumer Straße fließen, kann Schmitz viel Gutes abgewinnen. Oder der ISG Arminstraße, die das kleine gleichnamige Ausgehviertel betreut.
Schmitz reicht das aber noch nicht, ihm fehlt „eine Vision“, ein „größerer Wurf“, ähnlich wie es Bochumer Gewerbetreibende und Immobilienbesitzer auf breiter Fläche mit der „Immobilien- und Standortgemeinschaft Bermuda3Eck Bochum e.V.“ für das angesagte Viertel am Ende der Einkaufsmeile Kortumstraße getan haben – ein Publikumsmagnet und Dauerbrenner gleichermaßen. Dem Marketing-Experten und Konsumforscher schwebt solch ein Modell für Bahnhof- und Hochstraße vor, um die Innenstadtentwicklung entscheidend voranzubringen.
„Es braucht dazu die Initiative von ein paar Privatleuten“, ist Schmitz überzeugt. (Bauern-)Märkte und Aktionstage wie etwa das Flamencofestival „Gespaña“ reichten nicht aus, um als Einkaufsstadt nachhaltig in Erinnerung zu bleiben. „Es geht nur über einen großen Zusammenschluss. Eine große Idee schlägt viele kleine Ideen.“