Berlin. Der Internet-Guru Jeff Jarvis predigte in Berlin über das Privatleben im Zeitalter der Digitalisierung. Er liebt Facebook, fordert mehr Öffentlichkeit und lehnt Regulierungen im Netz ab. Im Publikum rumorte es: Diese Philosophie sei banal. Warum es am Ende trotzdem Jubel gab.
Wenn Jeff Jarvis spricht, lauscht die Internet-Community gebannt. Der Blogger und Professor aus New York hat sich in der Fachwelt den Ruf des „Digitalvisionärs“ erarbeitet. Kein Wunder, dass die Stuhlreihen besetzt sind in Berlin. Jarvis auf Stippvisite in Deutschland - das verspricht Zündstoff. Denn Jarvis kann die deutsche Psyche nicht verstehen. Wünsche nach Verpixelungen bei Google Street View kritisiert der „Digitalvisionär“ als viel zu emotional.
Angst und Beunruhigung vor dem digitalen Zeitalter sind Jarvis' Sache nicht. Er vertritt vor hunderten Zuschauern des dritten Demokratiekongresses der Konrad-Adenauer-Stiftung den Standpunkt, dass es längst keinen Unterschied mehr gibt zwischen dem analogen und digitalen Leben. Er fordert mehr Privates in der Öffentlichkeit. Dies sei nämlich eine Grundvoraussetzung von Fortschritt. „Wer kein Facebook-Konto hat, ist nicht mein Freund“, sagt er. Er wolle niemanden zwingen, aber „Sie wissen ja nicht, was Sie ohne Twitter und Facebook alles vermissen“. Öffentlichkeit schaffe Beziehungen. „Es sind doch nicht 800 Millionen Menschen bei Facebook, weil die dumm sind.“ Eine kleine Warnung gibt der Facebook-Fan dann doch noch. „Das Internet ist ein fauler Ort, um Geheimnisse zu bewahren. Aber er ist ein Platz zum Teilen.“ Das bedarf einer Erklärung.
Bericht über schrumpfenden Penis
Für Jarvis bedeutet das ins konkrete Handeln übersetzt – über seinen eigenen Prostata-Krebs zu berichten. Er schrieb in seinem Blog über alltägliche Probleme und seinen schrumpfenden Penis. Der Austausch über die Krankheit könne, so Jarvis, zu einem Mehr an Wissen in der Gesellschaft führen. Er, Jarvis, fühle sich nicht nackt, obwohl er mit seiner Privatsphäre experimentiere. „Ich wohne nicht im Glashaus und ich trage Klamotten.“
Jarvis nimmt einen Schluck Wasser und predigt weiter. „Privates und Öffentliches sind nicht im Krieg. Wir brauchen beides.“ Aber man dürfe nicht nur über die Gefahren des Internets sprechen, sondern müsse endlich die Möglichkeiten erkennen. Sein Wunsch: Krankenakten öffentlich machen. „Niemand muss sich schämen, krank zu sein.“ Falls es Ärger mit der Versicherung geben würde oder Arbeitgeber falsch reagieren, müssten entsprechende Anti-Diskriminierungsgesetze erlassen werden. Mit Hilfe von Online-Akten könnte man, so Jarvis, analysieren, wo sich Krankheiten lokal häufen – und dann in der Nachbarschaft nach den Ursachen forschen. Jarvis nennt diese geforderte Offenheit die Ethik des Teilens.
Jarvis: Alle Bits sollen gleich behandelt werden
Weitere Botschaften des Internet-Gurus: Alle Bits im Internet müssen gleich behandelt werden, eine staatliche Regulierung sei unnötig und Bürger wie Politiker würden einen großen Fehler machen, nicht in sozialen Netzwerken präsent zu sein. „Es ist besser, dabei zu sein. Sonst wird die eigene Meinung durch die eines anderen ersetzt.“
Der Internetskeptiker Evgeny Morozov sieht Jarvis als Halbintelektuellen, dessen Thesen auf dem Niveau einer Sarah Palin sind. Das finden auch einige Menschen im Berliner Publikum: „Sie stehen da wie ein Jesus Christus des Internets. Ihre Grundphilosophie ist einfach nur banal. Sie thematisieren überhaupt nicht den Datenmissbrauch“, ruft eine Frau bei einer offenen Fragerunde ins Mikrofon.
Forderung: Jarvis bei Phoenix
Jeff Jarvis bleibt gelassen und lächelt: „Natürlich bin ich nicht der Jesus Christus des Internets.“ Missbrauch im Internet sei nicht zu verhindern. „Weil das Leben voller Idioten ist, ist es auch das Internet. Es ist dreckig wie das Leben selbst.“ Jeder habe aber die freie Entscheidung, im Internet mit Daten und Wissen jeweils Gutes oder Schlechtes zu tun. „We need the choice!“
Am Ende war die deutsche Psyche dank glänzender Rhetorik bekehrt. Der Applaus: mehr als nur höflich. Twitterer fragten: Warum läuft Jeff Jarvis nicht bei Phoenix?
Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hätte den Vortrag von Jarvis besser noch hören sollen; beziehungsweise sein Redenschreiber. Denn was der Innenminister einige Stunden zuvor zu seiner Netzpolitik äußerte, überzeugte nicht. Das Publikum witzelte über den Minister, der Google und Google + nicht unterscheiden konnte und der als digitale Revolution verkaufte, „dass Kinder heutzutage Eisenbahn-Tickets im Internet kaufen“.
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Das neue Buch von Jeff Jarvis („Public Parts“) ist bisher nur auf Englisch erschienen (Simon & Schuster, 272 Seiten, als E-Book für 16 Euro).