Köln/Gelsenkirchen..
An der Seite von Simone Thomalla ermittelt Martin Wuttke im Leipziger Tatort. Doch das Fernsehen ist dem gebürtigen Gelsenkirchener unbekannter geblieben als die Theaterbühne. Ein Porträt.
Diese schwarze Brille, sie wirkt ein wenig überdimensioniert. Oder der Mensch dahinter ein wenig verloren. Je nach Blickwinkel. Martin Wuttke lässt sich in einen Ledersessel fallen, allerdings nicht ohne den Kellner vorher um einem Aschenbecher zu bitten. In der nächsten Stunde wird der Mann so manche Zigarette vernichten. Er raucht, überlegt, redet. Wuttke, so scheint’s, nimmt sich nicht so wichtig, als dass ihm Termine mit fremden Journalisten ein Vergnügen wären. Sie gehören zur Arbeit eines Schauspielers. Man wird das Gefühl nicht los: Wuttke würde jetzt viel lieber auf der geliebten Theaterbühne stehen und spielen. Diese Art, sein Innerstes nach außen zu kehren, ist ihm vertrauter, wesentlich sympathischer.
Also redet er nur. Ganz untheatralisch. Fast leise. Über die Zuschauer. Die seine Aufführung gestalten. „Sie bestimmen das Klima im Raum, geben den Rhythmus vor“, sagt er. Im Fernsehen hingegen bleibe der Betrachter das unbekannte Wesen. Beim Tatort, zum Beispiel, wo er als Hauptkommissar Andreas Keppler an der Seite von Simone Thomalla in Leipzig (siehe Kasten) ermittelt, schauen durchschnittlich 8,5 Millionen Leute zu. „Sie bleiben eine anonyme Zahl. Ich begegne ihnen nicht“, sagt er. Fernsehen ist ihm ähnlich suspekt, wie das Interview, das er gerade führen soll.
Auch nach seinem neunten Einsatz an der „Tatort“-Front, erklärt er freimütig: „Ich verstehe nicht viel vom Fernsehen.“ Es gebe zu viele Arbeitsvorgänge, die er als ungeduldiger Mensch nicht begreife. Nicht nur das. Wuttke übt auch Kritik. An der Macht der Produzenten, die Schauspielern, Drehbuchautoren und Regisseuren heutzutage wenig Spielräume und Mitsprache zugestehen.
Zwar sei auch am Theater die Freiheit nicht mehr grenzenlos, aber der Regisseur und Schauspieler scheint dort eher seine Berufung zu sehen. Okay, mit dem Theater verbindet ihn eine fast lebenslange Liebe. In Gelsenkirchen 1962 geboren, in Bochum aufgewachsen, besucht er nach der Schule die dortige Schauspielschule. Unter dem „krawalligen” Peymann, den der junge Wuttke aber eher nicht zu Gesicht bekommt. Sein erstes Engagement bringt ihn nach Frankfurt, danach wechselt er ans Berliner Ensemble.
Über 300 Vorstellungen des Arturo Ui
Unter Heiner Müller entsteht dort eine seiner bekanntesten und erfolgreichsten Inszenierungen: Bertolt Brechts „Arturo Ui“. In 15 Jahren hat er inzwischen über 300 Vorstellungen gegeben, ist mit der Parabel über die Machtergreifung Hitlers um die ganze Welt getourt. Es sei spannend, dieses Stück in unterschiedlichen Kulturkreisen zwischen Indien und Argentinien zu erleben. Die schönste Erinnerung hat er an Buenos Aires. Das Theater ausverkauft, 1700 Plätze besetzt und das Publikum war so begeistert, dass es nach der Aufführung die Schauspieler feierte wie eine Boygroup. „Die Menschen reagierten überschwänglich. Sie zogen ihre T-Shirts aus und schmissen sie auf die Bühne.“
1995 wird er kurzfristig sogar Intendant in Berlin – in der Nachfolge von Heiner Müller und Peter Zadek. Seit einem Jahr pendelt er zwischen Berlin und Wien hin und her. Wuttke folgte einem Ruf ans Burgtheater, wurde mit „offenen Armen und einer großen Grundzuneigung“ aufgenommen. Die offenbarte sich, als er gleich nach seiner ersten Spielzeit mit zwei der begehrten Wiener Nestroy-Theaterpreisen ausgezeichnet wurde. „Es ist ein ungeheurer Luxus, in diesen beiden Städten arbeiten zu dürfen“, sagt er. Nachdenklich fügt er hinzu: „Trotz ihrer Unterschiedlichkeit, diesem äußerlich hässlichen Berlin und dem Zuckerbäcker-Disneyland des 1. Bezirks in Wien gibt es etwas, was diese Städte verbindet.“ Vielleicht sei es ja die großartige Theaterlandschaft.
Ruhrgebietskitsch
Das Ruhrgebiet, seine Kindheits-Heimat, spielt in seiner Lebensplanung hingegen nur noch eine Statistenrolle. Wuttke greift zu einer letzten Zigarette, schiebt seine große schwarze Brille die Nase ein Stück hinauf. Die „aufstrebende Region der 80er Jahre“ sieht der 48-Jährige heute nicht mehr. Halden wurden zu Spielplätzen, Industriebrachen zu Freizeitparks, alte Hallen für die Triennale umgebaut: „Da ist mir zu viel Ruhrgebietskitsch entstanden“, sagt er. Vielleicht wäre es interessanter gewesen, statt für große Ereignisse wie die Kulturhauptstadt 2010 Produzenten von außen zu holen, mehr Menschen aus der Region einzubinden. „Die haben alle eine Stimme.“