Essen. Woodstock war der wahrgewordene Wunsch, sich für eine Weile von der Welt zu verabschieden. Doch wo vor 40 Jahren alle high waren, herrscht heute Kiffverbot. Was blieb vom Mythos Woodstock?
Sicherheitsleute drehen regelmäßig ihre Runden. Das Gelände ist eingezäunt. Und große Tafeln, die sofort ins Auge springen sollen, weisen recht energisch darauf hin, dass an diesem heiligen Ort heute so ziemlich alles verboten ist, was vor 40 Jahren ein gutes Stück weit den Mythos dieses grünen Fleckchens Erde begründete. Nicht rauchen, nicht trinken und vor allem nicht kiffen – das hätte man Joe vor 40 Jahren nicht zu sagen gewagt.
„Alle waren doch durchgehend high”, lacht der alte Hippie aus Pennsylvania in seiner abgewetzten Jeans-Kluft. Schon der Weg zu Max Yasgurs Kuhwiese ein Stück weit außerhalb von Bethel mitten im ländlichen US-Bundesstaat New York war wohl eine Shoppingmeile für alles, was berauschte. Fertig gedrehte Joints, die man nur noch anzünden musste, Marihuana-Tütchen, Hasch-Plätzchen, LSD-Trips – „es gab wirklich alles. Und niemand schritt dagegen ein”, amüsiert sich Joe noch 40 Jahre später.
Gedenkstein à la Grabstein
Etwa da hinten, zeigt Joe ins Ungefähre, „da hab ich gesessen. Und da unten war die Bühne.” Einen wuchtigen Gedenkstein, der fatal an einen Grabstein erinnert, haben die neuen Besitzer der Woodstock-Wiese in den Boden eingelassen. Man braucht tatsächlich solche Wegmarken, um glauben zu können, dass ausgerechnet hier, in diesem provinziellen Abseits, ein Spektakel stattfand, das Popkultur-Geschichte schreiben sollte.
Für die Farmerfamilien in der Gegend, vor allem aber für die vielen orthodoxen jüdischen Familien, die entlang der Landstraße von Bethel hinter blickdichten Zäunen in Großverbünden leben, müssen die drei Tage von Woodstock hingegen ein endloser Albtraum gewesen sein. Da hinten, fast noch in Sichtweite, gut eine halbe Million party- und musiksüchtiger Jugendlicher aus dem ganzen Land, die ihre Autos auf den heillos verstopften Zufahrtsstraßen einfach stehen ließen und fröhlich zu Fuß weiter zogen – und hier vorn ein Straßendorf, das bis dahin wie abgeschnitten von der Welt vor sich hin existierte, obwohl es bis zur Glitzermetropole New York nur 86 Meilen sind. Es könnten aber auch 860 Meilen sein.
Oben-Ohne-Bedienung
Äußerlich attraktiver ist Bethel in den letzten 40 Jahren nicht zwingend geworden. Und die kulturellen Höhepunkte jenseits von Woodstock spielen sich, glaubt man den bunten Werbereitern am Straßenrand, vor allem wohl in „Jonny's Sportsbar” ab, mit Oben-ohne-Bedienung.
Das schicke, gerade ein Jahr alte Woodstock-Museum neben Max Yasgurs alter Wiese ist ohnehin mehr eine Pilgerstätte für all jene wie Joe, die damals tatsächlich dabei waren oder die – wie Joseph – gern dabei gewesen wären. „Meine Mutter hätte mich erschlagen, wenn ich dahin gefahren wäre”, sagt Joseph, der damals 17 war. Jetzt, zum 40. Geburtstag des legendären Festivals, holt er die Reise mit Frau und Schwägerin nach, auf den Spuren einer Epoche, die tatsächlich alles andere als selig unbeschwert war.
Rassenkonflikte, Studentenunruhen, Straßenschlachten
Im fernen Vietnam tobte ein Krieg, in den sich die USA immer tiefer hineinritten. Und so mancher, der sich drogen- und musikberauscht verzückt auf der regendurchweichten Wiese im Schlamm wälzte, sollte sich tatsächlich schon wenig später im Dschungelmatsch Südvietnams wiederfinden. Rassenkonflikte, Studentenunruhen, Straßenschlachten – „wir, die Jugend Amerikas, traumatisiert, desillusioniert und angeekelt nach den Morden an unseren Helden John F. Kennedy, Martin Luther King und Robert Kennedy, suchten nach Ablenkung”, beschrieb Woodstock-Veteran Thomas McAvoy in seiner Webkolumne die Stimmung dieser Zeit, in der das Festival für drei Tage ein Ventil bot, um einmal durchzuatmen, Rockmusik zu hören und dabei friedlich ein paar Joints durchzuziehen. Eine Woche zuvor noch hatten die Jünger um Charles Manson im fernen Kalifornien bestialisch gemordet.
Henry hatte auch nichts Besonderes zu tun in seinem ländlichen Vermont, als ihn ein Kumpel anhaute. Ein Festival irgendwo im Hinterland der New Yorker Nachbarn – warum nicht? Mit Hippies verband den Farmerjungen wenig. Doch als die beiden Freunde nach der endlosen Nachtfahrt gegen Mittag, als sie die letzten Meilen zu Fuß gelaufen waren, die ersten nackten Mädchen sahen, die in den nahen White Lake sprangen, törnte „mich das fast noch mehr an als all der Shit, den wir uns auf dem Festival reinzogen”, erzählt uns Henry, ein munterer Endfünfziger mit Wohlstandsbäuchlein, Shorts und Sandalen schmunzelnd am Museumsausgang. Seine Ehefrau überhört das dezent.
100 000 Besucher
Wer wann spielte, ist ihrem Gatten entfallen. Aber dass es regnete, aus Kübeln goss, als ginge die Welt unter, hat auch er nicht vergessen. Der Regen, die Drogen, die katastrophalen sanitären Verhältnisse, die Proviantflüge der Nationalgarde, dazu ein Musikmix der Besten, die damals überhaupt bereit waren, sich auf das Abenteuer in der Provinz einzulassen, haben den Mythos Woodstock mitgeprägt.
Mit 100 000 Besuchern hatten die vier Jungs um Michael Lang, die das Festival gegen viele Widerstände und erst mit Unterstützung des lokalen Milchfarmers Max Yasgurs auf die Beine stellen konnten, in ihren kühnsten Träumen gerechnet. Dass es am Ende weit über eine halbe Million wurden, alles chaotisch aus dem Ruder lief und doch friedlich blieb auf der sanft abfallenden Wiese, hat dann auch sie umgehauen. Weil auf dem Landweg nichts mehr ging, mussten selbst die Musiker mit klapprigen Helikoptern eingeflogen werden. Den 40. Geburtstag groß zu feiern, hatte Lang geplant. Doch die Krise trifft auch das Musikgeschäft. Die große Party fällt aus. „No money. No sponsors”, meinte Lang enttäuscht. Dafür blüht das Nostalgie-Geschäft mit der Woodstock-Marke.
Gesalzene Ticketpreise
Ein Woodstock-Film des Oskar-Gewinners Ang Lee startet in den USA pünktlich zum Jahrestag Mitte August. Eine Box mit sechs CDs kommt auf den Markt. Und auch der legendäre Dokumentarfilm von 1970 ist in neuer Fassung noch einmal in den Kinos zu sehen.
Auch in Bethel, dem heiligen Ort, wird Geburtstag gefeiert, mit Rock-Veteranen auf der heute deutlich kleineren Bühne, die schon vor 40 Jahren dabei waren. Die Ticket-Preise sind recht gesalzen. Und dass man nicht mehr rauchen und kiffen darf, versteht sich von selbst. Dafür wird es gewiss wieder regnen.