Essen. Am 15. August 1969 begann Woodstock: Das Rockfestival mit einer runden halben Million Besucher sollte erst dreieinhalb Tage später enden - und ganz schnell zur Legende werden.

Als Michael Lang noch mit Aufbauen beschäftigt ist, es wird ein paar Tage vor dem 15. August 1969 gewesen sein, als Michael Lang also noch versucht, Woodstock zu organisieren, fragt ihn ein Reporter, ob er das alles noch mal machen wird. In Michael Langs sehr jungem Gesicht unter den braunen Locken ist möglicherweise ein bisschen Muffensausen auszumachen, aber die Kombination aus Unverfrorenheit und Trotz siegt: “Wenn’s funktioniert.”

Es hat nicht funktioniert. Es gab nicht genug zu essen für die 400.000, die es bis aufs Festivalgelände schafften, und die Verantwortlichen waren vermutlich froh, dass der Rest, vielleicht sogar nochmal so viele, im Stau stecken blieb. Die sanitären Bedingungen spotteten jeder Beschreibung, und die Veranstalter mussten den Eintritt des Festivals freigeben, weil sie einfach nicht wussten, wie sie ihn hätten kassieren sollen. Artie Kornfeld, einer der drei Partner Langs im Unternehmen Woodstock, sollte es später vor der Kamera so auf den Punkt bringen: “Es ist eine finanzielle Katastrophe.”

Gelebte Utopie

Hat es funktioniert? Wer in Woodstock war, trägt noch heute, 40 Jahre später, eine Art Ehrenabzeichen des Rock, hat ein Guthaben auf dem Coolness-Konto, das kaum aufzubrauchen ist. Wer nicht da war, aber die Bilder aus Michael Wadleighs Film “Woodstock: 3 Days of Peace and Music” sieht, kann leicht nachfühlen, wie dieses kleine Örtchen Bethel im US-Bundesstaat New York zur gelebten Utopie wurde, damals, für ein paar Tage im August. Und wer nur ein bisschen empfänglich ist für Rock und Blues und Folk live, für Gemeinsamkeit und Großes, wünscht sich, diesen Teil der Musikgeschichte miterlebt zu haben.

Jung und ein bisschen größenwahnsinnig

Vier Männer haben sich das ausgedacht. Sie waren jung und bestimmt auch ein bisschen größenwahnsinnig. Mit dem Festival, das sie im Sinn hatten, wollten sie das Geld einnehmen, das sie für ein Aufnahmestudio in Woodstock brauchten. Aber sie wollten bestimmt auch ein Teil der Stimmung sein, die die Gegenkultur der USA Ende der 60er so anziehend für viele junge Leute machte. “3 Days of Peace and Music” hatte der Grafiker als Motto für die “Woodstock Music and Arts Fair" vorgeschlagen - gekauft!

Dass das, was auf dem berühmten Plakat so beschaulich klang, riesig werden würde, war Michael Lang, Artie Kornfeld und den beiden Investoren Joel Rosenman und John Roberts, die offenbar weit mehr Geld als Verstand hatten, schon klar - laut Rosenman hatten über 100.000 Menschen Tickets gekauft. Als aber am Tag vor Festival-Beginn schon mehr als 50.000 auf dem Gelände waren und der Zaun noch längst nicht fertig, wurde den Organisatoren klar: Da ist nichts mehr zu retten. Sie erklärten den Eintritt für frei.

Und kümmerten sich fortan darum, eine Katastrophe zu verhindern. Mieteten jeden Hubschrauber an, der zu kriegen war, damit sie die Künstler über das Verkehrschaos hinweg aufs Gelände fliegen und so Aufstände enttäuschter Fan-Massen vermeiden konnten. Ließen medizinische Versorgung und Verpflegung für eine Menschenmenge einfliegen, die eine Großstadt hätte bevölkern können, und die in den Catskill Mountains praktisch ohne Infrastruktur im Gras saß und Gras rauchte.

Im Gras sitzen und Gras rauchen

„Uns erreichen Meldungen, dass das braune LSD nicht so gut ist“, können Ungläubige die Lautsprecherdurchsage in Wadleighs Film hören, „wenn ihr also experimentieren wollt, nehmt vielleicht nur eine halbe Tablette.“ Und in Stefan Morawietz Dokumentation „Woodstock – Wie der Mythos entstand“ erinnert sich eine Frau, die beim Festival war: „Alle waren stoned. Ich glaube, sogar die Ärzte waren stoned.“ Drogen waren in Woodstock offenbar leichter zu bekommen als Essen, und dass die Behörden das zuließen in einem Land, in dem es verboten ist, im Freien Alkohol zu trinken, ist 40 Jahre später nur schwer nachzuvollziehen.

Warum das Festival zum Mythos wurde, ist leichter zu verstehen. The Who, The Grateful Dead, Creedence Clearwater Revival, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jefferson Airplane und Joan Baez zum Beispiel zählten zu den größten Rock- und Folkstars der Zeit, insgesamt gehörten 32 Solokünstler und Bands zum Line-up, und eine solche Masse an Zuschauern hatte es vorher noch nicht gegeben. Gute Gründe, Woodstock als Mutter aller Rockfestivals zu bezeichnen, auch wenn es Monterey Pop, zwei Jahre zuvor mit vielen großen Stars an der Westküste über die Bühne gegangen und mit rund 200.000 Besuchern auch ganz gut dabei, etwas respektlos zur Großmutter aller Festivals macht.

Drei Stunden und 40 Minuten Woodstock fühlen

Aber auch die Stimmung hat zur Legende beigetragen, und sie ist tatsächlich mit Wadleighs Drei-Stunden-40-Minuten-Film nachzufühlen. Ein Team von rund 100 Leuten war in Bethel unterwegs, um Woodstock auf 100 Kilometern Film festzuhalten. Regieanweisung: Filmt, was euch interessant erscheint. Ein gewisser Martin Scorsese gehörte auch zur Crew – als Cutter und Regieassistent. Es wird schon eine ästhetische Entscheidung gewesen sein, aber man munkelt, Wadleighs Split Screens, die zwei bis drei Filmsequenzen nebeneinander zeigen, hätten auch etwas damit zu tun, möglichst viel Material unterzubringen.

Es waren dreieinhalb Tage voller Frieden und Musik, und damit hatte keiner rechnen können. Zu tief waren die Gräben zwischen den politischen Lagern, zu frisch die Erinnerungen an Ausschreitungen, zu gewaltig das Trauma, das der Krieg nicht nur den Menschen in Vietnam, sondern auch der amerikanischen Gesellschaft beibrachte.

Im Rückblick wirkt es, als hätten diese 400.000 jungen Leute so dringend eine Auszeit gebraucht, dass sie sie sich einfach nahmen. Dass sie sich an der hochprozentigen Mischung aus Musik und Drogen, Liebe, Sex und Gemeinsamkeit berauschten und so eine Atmosphäre schafften, in der kein Platz für Gewalt war. Sie scheint so überwältigend gewesen zu sein, dass die Hippies und die konservative Landbevölkerung nicht nur friedlich koexistierten, sondern tatsächlich Respekt füreinander gewannen. „Das war das besondere an Woodstock“, sagt Veranstalter Michael Lang 40 Jahre später, „das Publikum war super. Wir erlebten eine Welt, wie wir sie uns vorgestellt hatten. Das vielleicht Bemerkenswerteste war die Intensität des Gefühls. Es ging eine große Energie von Woodstock aus, und die war spürbar. Von Woodstock ging etwas zutiefst Menschliches aus.“

Ein Berg Müll und 1,6 Millionen Dollar Schulden

Für Lang ist ganz klar: „Der Film hat Woodstock zu einem Weltereignis gemacht.“ Wadleighs Werk und die Musikaufnahmen sind denn auch das, was Jahre später das Unternehmen Woodstock doch noch in die schwarzen Zahlen hievte, nachdem die Veranstalter zuerst auf einem Berg Müll und 1,6 Millionen Dollar Schulden sitzen geblieben waren. Einige Künstler wollten zwar ihre Auftritte nicht veröffentlicht wissen, weil sie sie für zu schlecht hielten, andere haben aber rockhistorische Performances präsentiert – Joe Cockers immer noch umwerfende „With A Little Help From My Friends“-Version etwa, mit der er Minuten, bevor der Sturm losbrach, der Woodstock zum Matsch-Fest machen sollte, seine Weltkarriere startete.

Der erst zweite Auftritt der neuen "Supergroup" Crosby, Stills and Nash, bei dem sich Stephen Stills vom Anblick des Menschen-Meers vor der Bühne dazu hinreißen ließ, "Mann, wir haben die Hosen voll" ins Mikro zu beichten. Oder Jimi Hendrix, der seine Gitarre eine unerhörte Version der amerikanischen Nationalhymne singen ließ.

Das war am Morgen des 18. August 1969. Geplant war, dass das Festival in der Nacht zuvor hätte enden sollen, aber nach Plan lief ja praktisch nichts in Woodstock. Was dem Mythos bestimmt nicht abträglich ist.

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