Essen. Nostalgie ist auch dabei: Als vor 40 Jahren die Organisatoren des legendären Musikfestivals Woodstock kurzfristig ohne Veranstaltungsort dastanden, half ihnen Elliot Tiber aus der Klemme. Ang Lee erzählt in „Taking Woodstock” abseits bekannter Bilder von einem mythischen Festival.
Wer an Woodstock denkt, der hat bestimmte Bilder vor Augen, die vor allem durch Michael Wadleighs Filmdokumentation des Festivals geprägt wurden. Da sind all die Bands auf der Bühne, der einsetzende Starkregen und Hundertausende von Menschen im Schlamm. Und obwohl Ang Lees neuer Film „Taking Woodstock” natürlich auch um dieses mythisch-musikalische Großereignis kreist, wird all das Vertraute nur am Rande berührt. Es tut dem Gelingen keinen Abbruch.
Ang Lee („Hulk”, „Brokeback Mountain”) hat sich die Autobiographie von Elliot Tiber vorgenommen, der es als Einwohner von Bethel, New York, und als junger Vorsitzender der dortigen kleinstädtischen Handelskammer erst möglich machte, dass die Veranstalter auf die Wiesen und Weiden des Farmers Max Yasgur aufmerksam wurden - und auf deren Möglichkeiten.
Was Tiber (im Film unter seinem Geburtsnamen Teichberg geführt) damit in Gang setzte, bedeutete das Ende der Beschaulichkeit in diesem ländlichen Winkel des Staates New York. Und die Konfrontation der Bauern und Geschäftsleute mit einer Spezies, von der sie bisher nur gehört hatten – den Hippies. Aus dem anfänglichen Strom wird schließlich eine Art Tsunamiwelle, weil Elliot auf einer Pressekonferenz dummerweise das Wort „free” gebraucht hatte. Nun galt Woodstock als eintrittsfreies Happening.
Woodstock als eintrittsfreies Happening
„Taking Woodstock” ist eine einzige große Erinnerungsblase, ein von zarter Nostalgie gefärbtes Hintergrundstück von nicht geringer Komik. Das Zentrum ist dabei eher von schwächlicher Statur. Elliot (Demetri Martin) ist ein mit wenig Charisma ausgestatteter Milchbubi, dem es im Trubel der Ereignisse allerdings gelingt, sich endlich von den dominierenden Eltern abzunabeln. Was kein leichtes Stück Arbeit ist bei dieser grantigen Furie von Mutter (großartig: Imelda Staunton), die noch fast jeden Gast ihrer schlecht gehenden Pension vergrault hat.
Ang Lee reiht viele Vignetten aneinander, die uns im Nachhinein das Gefühl geben, wirklich dabei gewesen zu sein. Da ist der muskulöse Transvestit Vilma (starker Auftritt: Liev Schreiber), der sich mit seiner Vietnam-Erfahrung erfolgreich als „Sicherheitschef” andient. Da ist der Motorrad-Cop mit der Blume am Helm, der zwischen zahllosen liegengebliebenen Autos in Richtung Bühne kurvt und dessen Blick dabei auf am Straßenrand friedvoll essende Menschen ebenso fällt wie auf musikbegeisterte Nonnen, die der Bühne entgegeneilen. Tatsächlich hat dies alles viel von einem Pilgerzug. Daheim in Teichbergs Pension versucht inzwischen die Mafia vergeblich Fuß zu fassen.
Prozess des Erwachsenwerdens
Als Elliot sich aufmacht, um zum musikalischen Zentrum zu gelangen, bleibt er bei einem campierenden Hippie-Pärchen hängen, in dessen Zelt er erstmals in Kontakt mit bewusstseinserweiternden Drogen und wohl auch mit einer sexuellen Dreierkonstellation kommt. Diese Erfahrung führt zu der traumhaftesten Szene des ganzen Films: In weiter Ferne scheint die Bühne, von der tatsächlich authentische Musikfetzen herüber dröhnen, im Licht der Scheinwerfer schier zu explodieren. Und die hügelige Wiese im Vorfeld beginnt dabei im Rhythmus von Meereswellen zu rollen.
Der Zuschauer verlässt Bethel, das ja nur Ersatz war für das eigentlich weiter nördlich in Woodstock geplante Festival, mit der festen Gewissheit, dass der sanftmütige Elliot durch all diese Geschehnisse zu befreiter Entschlossenheit gefunden hat. Dass man Woodstock also auch als Prozess des Erwachsenwerdens sehen kann. Und dass man die authentische Musik letztlich überhaupt nicht vermisst hat.