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Ein musikalischer Rückblick: Autor Georg Howahl hat seinen Plattenschrank durchstöbert und präsentiert - rein subjektiv natürlich - die zehn besten Alben des Jahrzehnts. Mit Editors, Bloc Party und New Order.
Es wäre so einfach gewesen, eine Top 90 der Platten aufzustellen, die es nicht in die Top 10 der besten Alben der letzten zehn Jahre geschafft haben. Erst, wer es für sich selbst versucht, weiß wie viele Kompromisse und Ungerechtigkeiten in einer solchen Auswahl stecken. Und wie viele Platten knapp gescheitert sind: Radioheads „Hail To The Thief“, Muses „Absolution“, Coldplays „X & Y“. Warum fehlen Oasis, Travis, Keane? Das soll hier nicht beantwortet werden, sondern hier nun die äußerst subjektiven zehn besten Alben des Jahrzehnts.
Platz 10: The Last Shadow Puppets „The Age Of The Understatement“ (2008, Domino/Indigo)
Da sieht man schon, wie sich die Fans der Arctic Monkeys verständnislos die Stirn kratzen, ausgerechnet dieses Album hier zu sehen. Doch was Monkeys-Sänger Alex Turner mit seinem Kumpel Miles Kane von den Rascals hier in einem Seitenprojekt unter Zufuhr von französischer Landschaft und Landwein zustande gebracht haben, lässt all ihre andere Musik andere blass aussehen: Sixties-Extravaganz mit Spaghettiwestern-Anstrich, die stellenweise klingt wie Scott Walker auf Speed. Turner und Kane ließen sich die überschwängliche Streicher-Orchestrierung, die auch mit Trommelwirbeln nicht zimperlich umgeht, von Owen Pallett besorgen, der ja auch bei Arcade Fire live mitwirkt. Es ist viel Schmachten und großes Pathos im Spiel auf diesem Album, ebenso die Melancholie der Enttäuschung („About as subtle as an earthquake, I know/my mistakes were made for you“). Dieses Album ist ein Schwelgen in großen Gefühlen, das den teils rotzigen Ansatz der Arctic Monkeys durch emotionale Eleganz vergessen macht. Und das Schöne: Wie der Landwein gewinnt diese Silberling mit der Zeit noch an Aroma.
Platz 9: Bloc Party „A Weekend In The City“ (2007, V2/Universal)
Dieses Album ist ein Tanzflächen-Manifest für Schrammler ebenso wie für Indietroniker. „Lord, give me grace and dancing feet,/let me outshine them all“ beschwört Sänger Kele in „The Prayer“ eben jene Geister, die für einen guten Eindruck auf der Tanzfläche zuständig sind. Wer bis zu dieser Zeile vorgedrungen ist, hat bereits zwei Songs redlich hinter sich gebracht, die sich das Prädikat „treibend“ mehr als verdient haben – und es hetzt nach einer kurzen Atempause („Waiting For The 7.18“) weiter. Bloc Party untermauern nach ihrem Debüt „Silent Alarm“ ihren Status als die Indie-Feierkappelle der mittleren Nullerjahre. Und wer eben eher das Debüt oder den technoiden Nachfolger „Intimacy“ unter seinen Favoriten führt, der liegt bestimmt nicht falsch. Doch fußfreundlicher als auf diesem Album war Indierock in den vergangenen zehn Jahren in keinem Moment, nicht bei den zweifellos guten Alben von The Faint („Agenda Suicide“, zu doomig und recht technoid), nicht bei Hard-Fi („Stars On CCTV“, zu poppig und zu kurzlebig). Und wer nun noch nach einem wirklich deutschen Aspekt sucht, findet ihn in „Kreuzberg“, einem tieftraurigen Song über unerfüllte Liebe „Crying again in the Hauptbahnhof“... Eine solche Tragik hat Chris Martin von Coldplay nicht mehr erlebt, seit er seinen ersten Hit hatte – und Bono von U2 vermisst diese Leere schon seit 30 Jahren. Möge Kele Okereke ewig unglücklich bleiben, um uns so schöne Songs zu schenken. Oder nach seinem spektakulären Coming Out Ende 2010 zumindest nie so ganz selbstzufrieden werden...
Platz 8: The White Stripes „White Blood Cells“ (2001, XL/Indigo)
Wer je den Glauben daran verloren hat, dass Rock (und Blues) um wild, beeindruckend und atemberaubend zu sein nicht viel mehr brauchen als eine Gitarre, wird hier erneut bekehrt. Denn „White Blood Cells“ hat etwas unverstellt Rückwärtsgewandtes, das etwa an Captain Beefheart erinnert, zugleich steckt es mit jeder Faser im Hier und Jetzt. Jack White steigt mit einer winzigen Rückkopplung in das stampfende „Dead Leaves And The Dirty Ground“ ein, den wohl bekanntesten Song. Das punkig rock’n’rollige „Hotel Yorba“ vermittelt hingegen einen guten Eindruck davon, wie es klingt, wenn die White Stripes Vollgas geben, was mit „Fell In Love With A Girl“ konsequent fortgesetzt wird. Jack White ist jemand, der seine Gitarre so perfekt beherrscht, sie zugleich so virtuos und so krachig einsetzt, dass man nur neidisch lauschen kann. Auch wenn Jack und Meg White vorher schon zwei recht gute Alben aufgenommen hatten, markiert „White Blood Cells“ ihren internationalen Durchbruch, zwar noch nicht bis in die Charts, aber immerhin bis in die Herzen der Rockfans.
Platz 7: The Killers „Sam’s Town“ (2006, Island/Universal)
Bei den Killers fiel die Wahl schwer, welches Album denn wohl das bessere sei, schließlich weist das Debüt „Hot Fuzz“ von 2004 prinzipiell die besseren Songs auf – aber als Album funktioniert „Sam’s Town“ einfach perfekt. Aufgebaut wie eine große Las-Vegas-Show: Trommelwirbel, Streicherintro, dann ein paar billige Keyboards, ein paar ruppig-punkige Gitarrenakkorde und man ist mitten drin in „Sam’s Town“ – und dann ein Chor und ein varietéartiges Outro, das in eine offiziellen Begrüßung mündet. Heute, da ein paar Jahre vergangen sind, kann man auch das vom Radio zu Tode durchgeprügelte „When You Were Young“ wieder gut ertragen. Okay, um die Killers zu mögen, muss man schon eine unverhohlene Sympathie für einen Queen-Verwandten Pathos haben, ein wenig Trash mögen – und den schlageresken Sündenfall vergessen, den die Jungs mit ihrem dritten Album „Day & Age“ begangen haben. Aber um sich mit ihnen zu versöhnen, reicht eigentlich ein kurzes Durchhören von „Sam’s Town“. Das westernmäßig galoppierende „Bling (Confessions Of A King)“, das rock’n’rollige „Reasons Unknown“, das trashig orgelnde „Read My Mind“, das etwas schmierige Liebeslied „Bones“, an all dem mag man wenig aussetzen. Auch nicht an der Produktion, für die Flood und Alan Moulder verantwortlich zeigten. Nicht am Artwork, dem Anton Corbijn eine Nevada-Trailerpark-Romantik verliehen hat. Und am Ende verabschiedet Sänger Brandon Flowers sein Publikum noch aus der Show, wie es sich für ein anständiges Las-Vegas-Varieté gehört.
Platz 6: New Order „Get Ready“ (2001, London Records/Warner)
Über jeden Zweifel erhaben ist dieses 2001er-Lebenszeichen von New Order, die seit den späten 80ern mal die wichtigste Popband der Welt, mal das dahinvegetierende Denkmal des Joy-Division-Ruhms waren. Doch „Get Ready“ mit der videofilmenden Nicolette Krebitz in zerschlissenen Jeans-/T-Shirt-Klamotten auf dem Cover ist auch nach fast zehn Jahren noch so verdammt gegenwärtig, als wolle jemand gleichzeitig alle Retro-Geister beschwören und der Welt zeigen, in was für eine glänzende Zukunft wir steuern. Und irgendwie ist es ja auch so: „We’re like crystal, we break easy“ scheint ein Credo für das anbrechende, trostlos erscheinende neue Jahrtausend zu sein. Es ist, als wollten New Order mit diesem Album gleichzeitig bekunden, dass sie alles schon gesehen haben, aber zugleich die Welt mit vollkommen neuen Augen sehen („I want it to be like it was in the start“). Natürlich hat man vieles schon gesehen, aber sollte man deshalb aufhören, traurig darüber zu sein? Nicht, nachdem man dieses Album gehört hat.
Platz 5: IAMX „The Alternative“ (2006, Acute/Edel)
Er ist der Peter Pan dieses Jahrzehnts, ein sich unentwegt häutender Ziggy Stardust, ein Traumtänzer zwischen Neonlicht und Drogenalbträumen. Kurz: Chris Corner, der früher einmal Chef der Sneaker Pimps („Six Underground“) gewesen ist und sein Solo-Projekt seit 2004 schlicht IAMX nennt, schlägt die Brücke zwischen einer phantastischen Vaudeville-Romantik und den brutalen Stroboryhthmen einer Elektrodisco, zwischen melodramatischen Popsongs und technoiden Mitstampfrhythmen. Das ganze vermischt mit einem ordentlichen Griff zur Theaterschminke, Federboas und Lippenstift – schon ist das Gesamtkunstwerk IAMX geboren. Manche würden diesen Sound Electroclash nennen, aber dazu ist er zu glamourös. Das brillante zweite IAMX-Album „The Alternative“ wurde von großen Teilen der Indie-Presse geflissentlich übersehen, vielleicht weil es zu schräg war, vielleicht, weil es zu beatlastig war. Oder weil sie mit dem gelb-schwarz geschminkten Konterfei auf dem Cover nichts anfangen konnten. David Bowie, da darf man sicher sein, würde dieses Album mögen, weil es fantasievoll, anspielungsreich und märchenhaft schön ist. Schon die Zeile „To all you lonely boys I will be president“ strahlt so viel Einsamkeit aus, der Song „The Alternative“ handelt schlicht vom Eskapismus, während es danach mit der Zeile „I want to know how to survive in the nightlife“ knallhart zurück auf die Tanzfläche geht – genau wie mit „After Every Party I Die“. Kein einziger Song auf diesem Album ist mit einem Makel behaftet. Vielmehr ist es rätselhaft, warum „Spit It Out“ nicht zu einem der meistverkauften Songs 2006 geworden ist, denn es liefert die perfekte Einheit von Ergriffenheit und Tanzbarkeit.
Platz 4: Editors „The Back Room“ (2005, Kitchenware Records/Pias)
Das eigentlich Merkwürdige an der Wiedergeburt der 80er-Jahre ist ja, dass sie nun schon länger anhält, als es der stilbildende Teil der 80er selbst tat. Vielleicht weil eine Band wie die Editors es geschafft hat, ihren Sound zwar vom Indie in den Mainstream zu transportieren, sich aber mit ihrem Sound kein bisschen einem vermuteten Publikumsgeschmack angebiedert hat. Und so liefert „The Back Room“ die Blaupause für alles, was die Editors bis heute geschaffen haben: Poppige New-Wave-Gitarrensongs mit treibenden Beats und bereits hier ganz leichten Elektro-Einschlägen. „The Back Room“ steigt schon mit der ersten Note voll ein, kein lahmes Intro, sondern die Zeile „I still love the light on baby/it keeps me awake but I don’t mind“. Hier geht es um Ängste, um Verlustängste um genauer zu sein. Und damit ist schon ein Thema des Albums definiert („All sparks will burn out in the end“). Kein Album, das man gut zu Cornflakes mit Milch genießen kann, es sei denn, man frühstückt gerne Melancholie. Dennoch: Fast jeder Song eine grandiose Single („Blood“, „Munich“), während andere ihre Funktion als Ruhepol perfekt erfüllen. So etwa das erhabene „Camera“, ein ganz ruhiger, wehmütiger Song, der von Schmerz erzählt und vor makelloser Schönheit strahlt. Auf diesem Album sind sogar die B-Seiten, die als Bonusdisc unter dem Namen „Cuttings“ erschienen sind, so gut, dass sie als eigenes Album bestehen könnten.
Platz 3: Morrissey „You Are The Quarry (2004, Attack Records/Sanctuary)
Es ist die große Kunst, der Welt auf möglichst elegante Art den Stinkefinger entgegen zu recken, die Morrissey auf diesem großen Comeback nach sieben Jahren perfektioniert. Nicht nur dass er in „America Is Not The World“ die USA im selben Atemzug mit einer Liebeserklärung ein „dickes, fettes Schwein“ nennt. Den nächsten Schlag führt er gegen die englische Borniertheit („Irish Blood, English Heart“) und gegen das Christentum („I Have Forgiven You Jesus“). Fast fühlt man sich vernachlässigt, wenn man auf diesem wohl elegantesten Album des Jahrzehnts nicht selbst einen Schlag abbekommt – insofern man sich nicht als „furchtbarer Langeweiler“ fühlt und beim grandiosen „The World Is Full Of Crashing Bores“ einreihen will. Nein, Morrissey erreicht hier eine Brillanz, die er zuletzt bei den Smiths hatte, sowohl textlich wie auch musikalisch. Und das, obwohl auch ein paar seiner oft geschmähten früheren Solowerke tatsächlich alles andere als schlecht waren. Will man wissen, ob Morrisseys Songs auch abseits von Hasstiraden und narzisstischer Selbstbetrunkenheit etwas taugen, muss man sich nur die fröhlich vorgetragene, tragische Gangsterballade „First Of The Gang To Die“ anhören – ein Song im Cinemascope-Format, genau wie dieses Album.
Platz 2: Johnny Cash „American VI: Ain’t No Grave“ (2010, Mercury/Universal)
Dieses Album nehme ich stets mit Ehrfurcht in die Hand, denn es ist die letzte Hinterlassenschaft des großen Johnny Cash. Dieses Album sollte man nicht zu oft hören, weil es so traurig macht. Aber man sollte es oft hören, weil es so viel Trost spendet. „There is a train/that’s heading straight/to heaven’s gate“ beschreibt der schon schwer kranke, streng gläubige Cash in Sheryl Crows „Redemption Song“, wohin die Reise ihn als Nächstes führen wird – auch wenn er im Leben kein Heiliger gewesen ist. Zuvor hat er schon prophezeit „Ain’t no grave can hold my body down“. Dieses Album, gut eine halbe Stunde lang, ist Cashs Requiem für sich selbst und der Höhepunkt der an sich schon grandiosen „American Recordings“, mit denen Produzent Rick Rubin dem Godfather des Country zu einem unvergleichlichen Altersadel verholfen hat. Nach dem Tod seiner Frau June hielt den schon schwer lungenkranken Cash ohnehin nur noch wenig auf der Erde – und man darf annehmen, dass er nur noch dieses eine Album vollenden wollte, um einen sauberen Abschluss zu machen mit einem Leben, das ihn mit so vielen Fragen zurückließ: „Can’t Help But Wonder Where I’m Bound“. Wenn am Ende von „Aloha Oe“ sein finales „Until we meet again“ erklingt, richten sich unwillkürlich die Nackenhaare auf.
Platz 1: Interpol „Turn On The Bright Lights“ (2002, Labels/Virgin/EMI)
Nach all diesen Jahren bleibt dieses Album eine Sphinx – aber eine, die unverändert in ihren Bann zieht. Man rätselt über den Zeilen von Paul Banks und erspürt doch nur die grenzenlose Melancholie, die aus ihnen spricht. Oder die existenzielle Angst. Oder die menschliche Enttäuschung. Ein Album also, das eher einem Gemälde gleicht, das düstere, schwere Emotionen mit mutigen, klaren Strichen zeichnet. Und gewiss weniger mit Joy Division und anderen New-Wave-Bands der 80er zu tun hat, als man in den ersten Jahren wahrhaben wollte. Denn Interpol sind keine Epigonen der 80er, sie sind einfach, wie sie sind. Und sie waren plötzlich da in einer Indie-Landschaft, die gerade das Retro-Debüt der Strokes als das Nonplusultra des neuen Rock-Jahrtausends abgefeiert hatte. Nichts wäre damals weniger erwartet worden als eine Schar New Yorker Schwarzmaler, die sich bemühten Kunst zu schaffen. Was Interpol sofort eine Menge Aufmerksamkeit bescherte. Sie stellen mit wenigen Worten brillante Analysen auf: „You are the only person who’s completely certain there’s nothing here to be into“. Sie sind manchmal so wortkarg („Hands Away“), dass die wavigen Gitarren von Daniel Kessler und der tiefe, in den Vordergrund gemischte Bass von Carlos Dengler eigentlich schon alles sagen. Es gibt merkwürdig gebrochene Liebeslieder („Obstacle 2“). Und dramatisches Storytelling („Stella Was A Diver And She Was Always Down“, „Roland“). Und es gibt unendliche Projektions- und Interpretationsflächen. Kurz: Ein Album, an dem man sich auch in zehn Jahren noch nicht satt gehört haben wird. Warum genau? Das kann man nicht sagen. Und das macht es so wundervoll.