Essen/Dortmund. Johannes Bultmann und Benedikt Stampa, die Konzerthaus-Chefs von Dortmund und Essen glauben, dass das Revier noch ein weiteres Konzerthaus in Bochum vertragen kann. Ein Interview über ihr Publikum, Kartenpreise und das Ruhrgebiet.
Die beiden großen Konzerthäuser des Reviers haben schwierige Zeiten hinter sich. Die jeweiligen Gründungsintendanten wurden nach Streitigkeiten um Finanzen vor die Tür gesetzt – sowohl in Dortmund, wo das Konzerthaus (1550 Plätze) 2002 eröffnet wurde, als auch in Essen, wo man die renovierte Philharmonie (1800 Plätze) 2004 einweihte. Wir sprachen mit den beiden amtierenden Intendanten Johannes Bultmann (Essen) und Benedikt Stampa (Dortmund) über Publikumsmangel, Kartenpreise und das Ruhrgebiet.
Sie bringen erstklassige Musiker hierher. In München wären deren Konzerte selbstredend ausverkauft. Warum ist das hier oft anders? Haben wir zu viel Kultur?
Bultmann: Es herrscht in München ein viel länger und breiter tradiertes Bewusstsein für die Künste. Das ist meines Erachtens in Essen noch nicht so verankert. Aber das heißt nicht, dass man nicht dahin kommen kann, man muss vielleicht irgendwann einfach anfangen. Wir könnten auch in Essen, ähnlich wie in München, Festspiele etablieren, ohne große Mehrkosten. Wir könnten in der TuP - d.h. mit Ballett, Schauspiel, Oper, Philharmonie - im Voraus der Planungen gemeinsam einmal jährlich eine Periode im Sommer von 14 Tage definieren und uns eine gemeinsame Thematik, Dramaturgie überlegen, und jeder bestückt aus seinem normalen Budget zu dieser Idee einen starken Beitrag. Das wäre doch eine perfekte Klammer zu Sommerfestspielen in Essen. Zu diesen Höhepunkten würden die Menschen in Essen auf Dauer eine Identität, ein Bewusstsein entwickeln! Auch für auswärtige Gäste könnte sich eine Tradition entwickeln, dass Menschen sagen: Wir gehen im Juni immer nach Essen! Das geht natürlich nicht von heute auf morgen, wäre aber mal ein Anfang.
Stampa: Die Frage höre ich ja oft. Haben wir nicht zuviel Kultur, verkraftet das Ruhrgebiet das überhaupt? Ich hab eine völlig andere Erfahrung gemacht und ich komme aus Hamburg, einer Stadt, die für sich übrigens auch beklagt, dass Weltstars längst nicht immer vor ausverkauften Häusern auftreten. In Dortmund haben wir definitiv kein Zuschauerproblem. Im Gegenteil. Allein im vergangenen Jahr haben wir eine Abonnementssteigerung von fast 19 Prozent erreicht, wir haben jedes Jahr neue Zuschauerrekorde. Ich glaube nicht, dass das Desinteresse das Problem ist. Ich bin so kühn und sage: Wir haben hier sogar einen Nachholmarkt. Viele Menschen sind (…)froh, dass Sie für Spitzenkonzerte nicht mehr nach Köln oder noch weiter fahren müssen. In Hamburg war das Gegenteil der Fall. Der Markt war so gesättigt, da musste man den Pianisten rückwärts auf die Bühne treiben, damit überhaupt jemand Interesse hatte.
Zur Person
Die Konzerthaus-Chefs
Johannes Bultmann (48), Intendant der Philharmonie Essen, trat sein Amt im November 2008 an. Er kam aus dem Management des Festspielhauses Baden-Baden, das ohne öffentliche Subventionen betrieben wird. Der gebürtige Ostwestfale hat in Köln Musik, Geschichte und Philosophie studiert und promovierte über den Komponisten Hans Werner Henze.
Benedikt Stampa, 1965 in Emsdetten geboren, ist seit dem Herbst 2005 Intendant des Konzerthauses Dortmund. Er studierte Musikwissenschaft, Betriebswirtschaft und Kulturmanagement. Ab 1996 leitete Stampa die Hamburger Musikhalle am Brahms-Platz, die im 2005 in Laeisz-Musikhalle umbenannt wurde; dort baute er mit geringen Finanzmitteln profilierte Konzertreihen auf.
Aber es gibt doch Künstler, die Sie als Hausherren fragen, warum das jetzt so leer ist.
Bultmann: Natürlich fragen die Künstler, und natürlich gab's auch in der Vergangenheit mal Situationen, da waren mehr Leute auf der Bühne als im Saal, das tut weh. (…) Vor einem leeren Haus spielt keiner gern. Aber das Problem haben wir derzeit nicht, und es wird auch hoffentlich zukünftig mehr eine Ausnahme bleiben. Derzeit haben wir 60 % der Karten entsprechend der Planung für die ganze Spielzeit, also bis nächsten Sommer, schon jetzt verkauft, das ist wirklich sehr gut. Es wird aber auch Konzerte geben mit zeitgenössischer Musik, mit spezieller Alter Musik oder auch mal Liederabende, die nur 300 oder 400 Besucher haben. Mit einem Kammermusiksaal wäre das kein Problem. Wir versuchen in der neuen Spielzeit durch eine optimiertere Steuerung des Saalplanes das atmosphärische Problem zu relativieren, so dass sich bei 300 oder 400 Besuchern das Konzert für das Publikum und für die Künstler gut anfühlt. 300 Menschen über die 1900 Plätze verstreut ist natürlich eine Friedhofssituation.
Ist das Publikum überaltert?
Stampa: Wir sollten uns hüten, das ältere Publikum abzuqualifizieren, das ist ein "wachsender Markt". (…) In ein paar Jahren gehören Sie und ich selbst zu den "Best Agern". Wer heute 60 ist, kann noch viele Jahre ins Konzert gehen. Das Potential dahinter ist nicht zu verkennen.
Ist Marketing zu lange vernachlässigt worden?
Bultmann: Das ist zu lange gar nicht gemacht worden. In Amerika ist man da um Jahre uns voraus. Marketing ist ja weit mehr als Werbung, denken Sie mal nur an CRM, also an Kundenbindungsstrategien. In der deutschen Wirtschaft ist das selbstverständlich. In der TuP fangen Herr Bergmann und ich an, diese Versäumnisse aufzuarbeiten. Ferner ist das Fundraising im Vergleich zu den USA hier in den Kinderschuhen, wird aber täglich auch in Essen umso bedeutsamer, weil die öffentliche Hand kaum noch Geld hat.
Sind die Karten zu teuer?
Stampa: Da ist eine Kernfrage: Wir sind eben in einer sehr strukturschwachen Region unterwegs, wobei es natürlich auch ein sehr wohlhabendes Klientel gibt. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, dass kein Ticket in Dortmund im Schnitt teurer ist als 35 Euro - und uns dran gehalten. Was kostet heute im Dortmunder Signal-Iduna-Park eine Karte im Schnitt? Ich glaube, über 40 Euro. Das heißt, der Fußballfan zahlt mehr für ein Ticket als der Besucher eines (…) Konzerthauses.
Aber der Fußball kriegt nicht Ihre Subventionen...
Stampa: Ich möchte nicht wissen, wieviel Millionen Euro die Stadt Dortmund jedes Jahr in den BVB steckt, allein nur um die Polizei und Sicherheit zu gewährleisten, da möchte ich mal meine Subventionen dagegenrechnen - dann wird daraus ein Schuh und dann kann man auch die Preisdiskussion aushalten. Es geht hier um eine Wertediskussion. Was ist es uns wert, ins Konzert zu gehen? Ein Orchester der Weltkategorie wie die Wiener Philharmoniker verlangt ein Honorar, das so hoch ist wie der Preis einer Doppelhaushälfte. Man muss immer hinterfragen, ob das gerechtfertigt ist. (…) Ist es gerechtfertigt, dass ein Spieler von Schalke 04 Millionen Euro verdient?
Beide werden zu Recht ihren Marktwert anführen. Wer international mitspielen will, und das wollen wir, muss bereit und in der Lage sein, gewisse Wagnisse einzugehen. Die Grenze setzt der Zuschauer.
Bultmann: Der Preis setzt sich aus verschiedenen Faktoren zusammen. Erstens der Subventionszuschuss. Zweitens haben wir einen Kosteneinsatz, teure Orchester, günstigere Gastspiele. Drittens haben wir einen ethischen Bereich, dem wir uns jeden Tag stellen. Was ist das wirklich wert? Natürlich kann man auch mit den Wiener Philharmonikern hart verhandeln, aber wenn Sie ein bestimmtes Geld nicht hinlegen, dann kommen die einfach nicht. Und der letzte Punkt ist: Was kann der regionale Markt hier an Ticketpreisen vertragen. Gegen Salzburg sind unsere Preise sehr niedrig, obwohl wir z.T. vergleichbare Konzerte haben. Nähmen wir Salzburger Preise, säßen wir allein im Saal.
Fänden Sie Gefallen an einem Kultursozialismus, der jede Karte für 10 Euro hergibt?
Stampa: Nein! Erstens haben wir freie Marktwirtschaft, zweitens sind teure Tickets nicht das Problem, die verkaufen wir ja.
Bultmann: Tatsächlich sind Tickets von 140 Euro nicht unser großes Problem. Es gibt weiterhin genug Menschen die zwar auch von der Wirtschaftskrise betroffen sind, die aber nicht auf ein hochkarätiges Konzert verzichten wollen. Leider spricht man immer nur davon, wie teuer eine Karte ist, aber wenn Sie schauen, was wir für Einstiegspreise haben, etwa 9 € für Studenten, ist die Diskussion nicht so heiß, wie manche sie machen wollen. Wer natürlich nicht zehn Euro übrig hat, der hat auch mit zehn Euro ein Problem, aber auch mit 5 €.
Blickt man zurück auf unschöne Geräusche in Ihren Häusern, fragt man sich auch, ob Strukturen zukunftsfähig sind, in denen Politiker mit begrenzter Professionalität solche Tanker mitsteuern...
Stampa: Wir leben von der öffentlichen Hand, die Aufsicht muss gewährleistet sein. Wenn es gut läuft, gibt es kein Problem. Wenn es nicht gut läuft, ist der Konflikt da. Manche Vertreter der Kommunen mögen vielleicht musikalisch nicht auf der Höhe sein, manche fiskalisch nicht, aber es sind Menschen der Region und sie sprechen mit der Stimme des Volkes im Aufsichtsrat. Das heißt, wenn ich meinen Aufsichtsrat, also mein Kontrollgremium überzeugt habe, dann habe ich auch einen Teil der Bevölkerung überzeugt. Dass ich beaufsichtigt werde von Menschen, die als Mitglieder des Rates mir das Geld geben, geht absolut in Ordnung.
Bultmann: Ich kenne Aufsichtsräte, die nur aus Stiftungsmitgliedern bestehen, also Menschen, die durch ihr Privatvermögen Festspiele ermöglichen. Jetzt habe ich einen Städtischen Aufsichtsrat. In beiden Fällen gab es bislang kein einziges Mal den Versuch, sich etwa in Programmplanungen einzumischen, etwa Modernes gegen Operette auszuspielen. Und grundsätzlich muss man seinen Job professionell machen, egal ob man Privatpersonen oder einem städtischen Aufsichtsrat gegenüber Rechenschaft ablegt.
Fürchten Sie, dass nach der Kulturhauptstadt die Rotstifte gespitzt werden?
Stampa: Ich habe keine Sorgen. Es gibt ein Vertrauen zwischen der Politik und unserem Konzerthaus. Es gibt in Dortmund einen Nettozuschuss von 2,5 Millionen Euro. Wir haben einen Deckungsbeitrag von über 60 Prozent. Natürlich werden wir auch Kürzungen hinnehmen müssen. Stellen Sie sich mal vor, Dortmund spart, und wir wären das einzige Haus, das ungeschoren davon käme! Also machen wir natürlich mit. Außerdem glaube ich, dass sich am Konzerthaus keiner substantiell schadlos halten wird. Neben dem BvB und dem Technologiezentrum sind wir eines der Aushängeschilder der Stadt.
Bultmann: Wir leben nicht auf einer Insel der Glückseligen. Bei der Theater und Philharmonie Essen müssen 13 Millionen eingespart werden. Wir haben einen großen Beitrag geleistet. Ich gehe davon aus, dass die Philharmonie bis 2013 nicht noch weiter reduziert wird. Denn dann ginge es nicht um irgendeinen Speckgürtel, dann ginge es an die Substanz, d.h. direkt an die Kunst. Und dann muss eine Stadt sich entscheiden, will sie weiterhin Kunst und wenn ja, auf welchem Niveau.
Was bringt Ruhr 2010?
Stampa: Wenn wir schaffen, dass nach 2010 der Taxifahrer sagt: "Konzerthaus find ich gut", dann haben wir es geschafft. Auf Touristen zu hoffen, die doch bloß tröpfeln, das bringt wenig. Wir müssen die Menschen hier bei uns mitnehmen.
Bultmann: Die Region hat leider immer noch zu wenig Selbstverständnis. Ruhr 2010 kann eine Identität schaffen! Ich traue dem Kulturhauptstadtprogramm das zu.
Brauchen wir das Konzerthaus Bochum?
Stampa: Die Region kann das locker vertragen. Seien wir doch froh. 5,3 Millionen Menschen, fast doppelt so groß wie Berlin, seien wir selbstbewusst.
Bultmann: Die Bochumer wollen ja kein Konzerthaus wie Dortmund und Essen sein. Aber so wie ein Fußballverein, der erste Liga spielt, ein vernünftiges Stadion braucht, so braucht ein Konzert-Orchester einen guten Saal, und das will Bochum.
Wenn Sie diese Region mit einem Musikstück vergleichen sollten...
Stampa: Das Ruhrgebiet erlebe ich wie ein Roadmovie. Ich liebe es, abends durchs Ruhrgebiet zu fahren, zu "cruisen". Wenn ich im Dunkeln über die A40 an Essen und Bochum vorbeifahre, dann denke ich an Los Angeles, eine Stadt, für die ich eine tiefe Zuneigung empfinde. Für mich klingt das Ruhrgebiet eigentlich wie Musik im „American style” von Steve Reich, also modern und rhythmisch. Die Musik ist dabei nicht fertig, sondern fühlt sich noch unvollendet an.
Bultmann: Moderne Musik, ganz klar! Das Ruhrgebiet als Musikstück, da sehe ich nicht Schubert oder Bachs h-Moll-Messe: Ich sehe hier Aufbruch, Moderne Zeiten, also Zeitgenössisches.
Leben Sie im Ruhrgebiet großstädtisch?
Stampa: Was ist großstädtisch? Den Begriff „Polyzentrische Metropole” habe ich kürzlich zur Umschreibung des Ruhrgebiets gehört. Dabei hat es - genau wie Berlin übrigens auch - eine starke provinzielle Note, die indes auch den Charme ausmacht. Die Taubenzucht gehört nun einmal zu unserer Identität; und dass Atze Schröder einer der bekanntesten Ruhrgebietler ist, der dieses Klischee ja auch durchaus charmant vorlebt, ist Teil der Provinz. Aber der entscheidende Punkt ist: Das Ruhrgebiet ist eine großartige „Stadt”. Es leben Millionen Menschen in ihr und mit ihr. Im Ruhrgebiet ist Bewegung, die man spüren kann. Das Dörfliche einerseits, die Anonymität andererseits macht den großen Reiz aus - und einen Unterschied zu anderen großen Städten.
Was ist das Schönste an Ihrem Haus?
Bultmann: Atmosphäre und Akustik.
Stampa: Das natürlich. Aber, dass ein modernes Konzerthaus mitten in der Stadt steht, das finde ich super. Wow!