Essen. Im Jahr 2001 überraschte der französische Regisseur Jean-Pierre Jeunet mit dem Film “Die fabelhafte Welt der Amélie“ die Kritiker. Nun möchte er mit “Die Karte meiner Träume“ – basierend auf dem Roman des US-Amerikaners Reif Larsen – das Kino-Publikum erneut verzaubern. Und das dürfte ihm gelingen.

Es ist selten geworden, dass man von sich behaupten könnte, glücklich aus einem Film gekommen zu sein. Zu viele Begegnungen mit schlechtem Geschmack, zu viele ausgetretene Pfade, die immer und immer wieder befahren werden – das stumpft auf Dauer ab. Doch jetzt gibt einem der französische Regisseur Jean-Pierre Jeunet („Die fabelhafte Welt der Amélie“) mit seinem in den USA angesiedelten Film „Die Karte meiner Träume“ wieder den Glauben an großes, staunenswertes Kino zurück.

Man hätte es sich ja auch denken können. Schließlich ist Jeunet ein Bilderträumer, der von „Delicatessen“ über „Alien – Die Wiedergeburt“ bis zu „Mimics“ immer wieder optisch und inhaltlich zu überraschen wusste. Nun hat er sich Reif Larsens gleichnamigen Bestseller vorgenommen, der von dem zehnjährigen Genie T.S. Spivet erzählt. Ohne elterliche Erlaubnis unternimmt dieser schmächtige Knabe (sehr zerbrechlich wirkend: Kyle Catlett) ganz allein eine Reise quer durch die USA, um im Smithsonian Institut von Washington den renommierten Baird-Preis entgegenzunehmen. Seine Erfindung eines Perpetuum mobile von jahrhundertelanger Ausdauer hat die Wissenschaftler schier entzückt. Kein Mensch aber hat je geahnt, dass sich hinter dem Erfinder ein kleiner Junge verbirgt, der auf einer Ranch im ländlichen Montana lebt.

Zeitlose Märchenwelt voller satter Farben und spleeniger Figuren

Hier spielt der erste Teil des Films, in dem Jeunet den Zuschauer einführt in eine zwar heutige, trotzdem aber seltsam zeitlos wirkende Märchenwelt voller satter Farben und spleeniger Figuren. Da ist zum Beispiel die Mutter unseres Helden, die verschrobene Wissenschaftlerin Clair (Helena Bonham Carter), immer leicht neben der Spur, aber voller Begeisterung, wenn sie in Fauna und Flora wieder mal eine Entdeckung gemacht hat. Eigentlich scheint es unmöglich, dass dieses Geschöpf mit einem derart einsilbigen und verschlossen dreinblickenden Mann wie Tecumseh Elijah (Callum Keith Rennie) verheiratet ist. Doch in diesem Wunder einer Ehe spürt man gelegentlich allein schon durch Gesten die zärtliche Zugeneigtheit der beiden. Bleiben noch die pubertierende große Schwester Gracie (Niamh Wilson) und der T.S. immer wieder erscheinende Bruder Layton (Jakob Davies), der bei einem Gewehr-Experiment des Tüftlers ums Leben kam und an dessen Tod sich T.S. deshalb schuldig fühlt.

Tiefenschärfen von Thomas Hardmeier erzeugen dreidimensionale Bilder

In dieser Umgebung spinnt Jeunet uns wieder ein in eine seiner wunderbaren Welten, die er diesmal wild entschlossen auch in 3D präsentiert. Wer da bereits die Nase rümpft, sollte erst einmal hinschauen: Die Tiefenschärfen von Kameramann Thomas Hardmeier erzeugen dreidimensionale Bilder, wie man sie in dieser fast beiläufigen Brillanz seit Ang Lees „Life of Pi“ nicht mehr auf der Leinwand gesehen hat. Hinzu kommt, dass sich die Gedankenwege des Genies T.S. fortlaufend in schwebenden Zeichnungen, Tabellen und Diagrammen manifestieren, die durch 3D eine geradezu plastische Kraft entwickeln.

Derart eingestimmt von träumerischen Impressionen, begleitet man den kleinen Erfinder danach nur allzu gern auf seinem langen Trip gen Osten, registriert seine Begegnungen etwa mit anderen illegalen Zugbenutzern, seine Versteckkünste beim Auftauchen von Bahnpersonal – und wundert sich schließlich auch nicht, wenn er unbescholten sein Ziel erreicht. Wie er dort dann zur Überraschung aller tatsächlich eine Rede hält und wie er sich der hysterischen Institutsleiterin Jibsen (leider völlig überdreht: Judy Davis) erwehrt, die ihn nur allzu gern medial vermarkten möchte, das rückt die Geschichte dann doch näher heran an eine mögliche Gegenwart. Für den Erfinder ein Zeichen, dass es höchste Zeit ist, wieder ins märchenhafte Idyll von Montana zurückzukehren. Der Zuschauer ist da schlechter dran, dafür aber ist er zwei volle Stunden lang verzaubert worden.

Wertung: 5 von 5 Sternen