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Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends liegt hinter uns. Und damit locker weit über 3000 Filme, die in deutschen Kinos gezeigt wurden. Sie auf zehn Favoriten einzudampfen ist ein Versuch, der Widerspruch geradezu herausfordert.

Das Anliegen, das hier gefordert wird, ist ein schier Unmögliches. Die zehn besten Filme des ersten Jahrzehnts im dritten Jahrtausend möge der Kritiker doch bitte versammeln. Aber schon bei Durchsicht der Jahrgänge hat er nach 2003 bereits zwölf Titel auf der Liste. Am Ende funktioniert das Vorhaben dann doch - mit einem deutlichen Akzent auf persönliche Vorlieben, mit der Beschränkung auf nur einen Film pro Regisseur. Und der Gewissheit, dass Widerspruch geradezu herausgefordert wird. Eines aber kann der Autor versprechen: Keiner der hier genannten Filme lässt den Betrachter unberührt.

1) Mullholland Drive (USA /Frankreich 2001). Regie: David Lynch. Man möge einen Donut in die Hand nehmen, rät David Lynch seinem Publikum, nicht auf den Teig schauen, sondern auf das Loch in der Mitte. So müsse man auch seine Filme betrachten. Das mit dem Loch ist schon sehr anschaulich: Mehr als einmal hat man in „Mullholland Drive“ das Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen. Drei Erzählstränge, die nicht zusammenwachsen wollen, Geheimnisse, die nicht gelöst werden, Figuren, die plötzlich zu multiplen Persönlichkeiten mutieren - und keine Hoffnung darauf, dass dieses Bilderpuzzle am Ende gelöst werden könnte. Dass wir diesem Alptraum voller Obsessionen, Sex und Gewalt trotzdem geradezu süchtig folgen, das ist wahre Meisterschaft.

Das Grauen der Vernichtung

2) Der Pianist (Frankreich/Deutschland/Polen/England 2002). Regie: Roman Polanski.

Zu Beginn hören wir den polnischen Pianisten Wladyslaw Szpilman (Adrien Brody), wie er im Radio Chopins Nocturne in cis-Moll spielt. Am Ende wird er dieses Stück in einem Konzertsaal noch einmal spielen. Dazwischen aber liegt das Grauen der Judenvernichtung durch die Nazis, liegt der Verlust der kompletten Familie und die eigene kreatürliche Angst in den Jahren des Versteckens. Die Kamera schweift nie ab, bleibt immer dran an diesem Protagonisten, an seiner Einsamkeit und seiner Furcht. Durch Szpilmans Augen sehen wir die nackte Grausamkeit der uniformierten Schlächter auf der Straße. Noch kein Holocaust-Film hat eine derartige Intensität erreicht.

3) Wolfsburg (Deutschland 2002). Regie: Christian Petzold. In Christian Petzolds Filmen sprechen die Schauspieler wenig, es sprechen mehr die Bilder. Jede neue Einstellung ist ein exakt berechnetes Tableau, das von all dem erzählt, was in den Dialogen ausgespart bleibt. In der ersten Wahrnehmungsebene ist dies die Geschichte eines Autoverkäufers, der ein Kind überfährt, sich seiner Schuld nicht stellen will, dafür jedoch sich in die Mutter des toten Jungen (Nina Hoss) verliebt. Petzolds Bilder aber dringen in die Tiefe, machen das Auto als Symbol der Ordnung kenntlich, als luxuriös ausgestatteten Wohnraum, der auch in der Bewegung zwischen den Orten für den Fahrer eine Behaustheit suggeriert. Durch den Unfall wird all dies von jetzt auf gleich zerstört, Fürmanns Verkäufer taumelt in die emotionale Wildnis.

Die Erinnerung löschen

4) Vergiss mein nicht (USA 2004). Regie: Michel Gondry. Was wäre, wenn man sich nach der Trennung von seiner Freundin sämtliche Erinnerungen an diese Frau aus dem Gehirn entfernen lassen könnte? Wäre man am Ende glücklicher, weil Frust, Enttäuschung und Eifersucht einfach wegfielen? Gondrys Film spielt mit dieser klinischen Möglichkeit, die Joe Barish (großartig: Jim Carrey) gerne wahrnehmen möchte, da seine Ex-Freundin (Kate Winslet) diesen Schritt bereits vollzogen hat. Doch mitten in der Behandlung revidiert er seine Meinung und stemmt sich gegen die Extraktion. Der Kino-Magier Gondry entführt uns dabei in Joes Gedankenwelt, die auch visuell zum Krisengebiet wird - eindrucksvoller hat man Erinnerungen nie bröckeln sehen. Ein verrückter, ein wunderbarer Film über die Liebe, an dem das Drehbuch von Charlie Kaufman („Being John Malkovich“) starken Anteil hat.

5) Sideways (USA 2004). Regie: Alexander Payne. Zwei Verlierer im täglichen Kampf um den Erfolg reisen durch die kalifornischen Weingebiete und leben dabei sichtlich auf. Jack (Thomas Haden Church) ist ein erfolgloser Schauspieler, der nach der Rückkehr heiraten will, Miles (Paul Giamatti) ein Lehrer und abgewiesener Schriftsteller, der im Rebensaft seliges Vergessen findet. Aus diesen beiden gegensätzlichen Charakteren kreiert Regisseur Payne („About Schmidt“) ein bittersüßes Roadmovie, mal zum Brüllen komisch, mal herzzereißend tragisch. Der eine will vor der Ehe noch einmal alles flachlegen, was ihm in den Weg kommt, der andere will zumindest alles austrinken. Es ist ein Film, der nicht über seine Protagonisten urteilt, sondern ihrem Treiben nur höchst interessiert zuschaut. Da wird dann selbst ein notorischer Schürzenjäger noch zum Sympathieträger.

Das Spiel mit den Identitäten

6) A History Of Violence (USA/Kanada 2005). Regie: David Cronenberg. Ein überraschend realistischer Film von Cronenberg, der sonst schon mal Köpfe explodieren lässt oder uns in Restaurants entführt, wo unaussprechliche Scheußlichkeiten auf der Tageskarte stehen. Dies aber ist die sehr klare Geschichte eines harmlosen Coffee-Shop-Besitzers (Viggo Mortensen), der sich plötzlich von einer angeblichen Vergangenheit als Gangster in Philadelphia eingeholt sieht. Nachdem er zwei aggressive Unterwelt-Typen in seinem Laden kurzerhand liquidiert hat, beginnt auch seine Ehe zu kriseln. Auch Gattin Edie (Maria Bello) fragt sich allmählch: Wer ist dieser Tom Stall wirklich? Cronenberg liebt das Spiel mit den Identitäten, und wir lieben, wie er hier damit umgeht. Von der manchmal behäbigen Inszenierung darf man sich nicht täuschen lassen, schom im nächsten Bild können Knochen brechen.

7) Der freie Wille (Deutschland 2006). Regie: Matthias Glasner. Ein notorischer Vergewaltiger ist nicht gerade das, was man sich als zentrale Figur eines Films wünscht. Regisseur Glasner mutet uns jedoch genau dies zu - und das über einen Zeitraum von fast drei Stunden. Und dann macht er uns auch noch gleich zu Anfang zum Zeugen einer solchen Tat, die in ihrer ganzen Dauer und Grausamkeit aus nächster Nähe gezeigt wird. Danach müssen wir mit Theo fertig werden, verkörpert von einem überragenden Jürgen Vogel. Er absolviert zwar zehn Jahre Therapie, macht danach auch den Versuch einer echten Beziehung, aber er hat im Grunde keine Chance. In einer sexualisierten Gesellschaft, die ihn Tag für Tag in Form von Werbung und Mode anspringt, ist sein Rückfall vorprogrammiert. Der Film zeichnet das komplexe Bild eines Sexualstraftäters mit einer Radikalität, wie man sie dem deutschen Film nie zugetraut hätte.

„Maulwürfe“ in Boston

Schauspieler Leonardo Di Caprio. Foto: afp
Schauspieler Leonardo Di Caprio. Foto: afp © AFP

8) The Departed - Unter Feinden (USA 2006). Regie: Martin Scorsese. Dass Hollywood sich nicht selten bei asiatischen Filmvorlagen bedient, ist kein Geheimnis. Dass dabei etwas herauskommt, dass dem Original, „Infernal Affairs“ von Wai Keung Lau, mindestens ebenbürtig ist, das liegt in diesem Fall sicher nicht nur an Regisseur Scorsese. Leonardo DiCaprio und Matt Damon spielen voller Engagement die beiden Kontrahenten, zwei „Maulwürfe“ in Boston sowohl auf Gangster- als auch auf Polizeiseite, für die der Spielraum mit der Zeit immer enger wird. Jack Nicholson setzt derweil als gnadenloser Gangsterboss mit großer Leichtigkeit nachhaltige Akzente. Der Thriller mit gesellschaftlichem Hintergerund, das ist Scorseses Heimatboden, das ist da, wo er immer wieder zur Hochform aufläuft. Vor allem dann, wenn er einen Kameramann wie Michael Ballhaus neben sich hat, für den dies der letzte Film als „Director of Photography“ war.

9) No Country For Old Men (USA 2007). Regie: Joel & Ethan Coen. Die Geschichte stammt eher aus dem Standardrepertoire: Einfacher Arbeiter stolpert über die Leichen eines aus dem Ruder gelaufenen Drogendeals, entdeckt eine Tasche voll Geld und macht sich mit einer Millionenbeute davon. Bald schon folgt ihm ein Killer seltsamen Zuschnitts (Javier Bardem), gesegnet mit einer lächerlichen Prinz-Eisenherz-Frisur und bewaffnet mit einem druckluftbetriebenen Bolzenschussgerät. Das Besondere am Film der Coens sind eine Fülle von unglaublich dicht inszenierten, bedrohlichen Situationen, in denen der Tod stets anwesend zu sein scheint. Tommy Lee Jones als amtsmüder, zermürbter Sheriff und die CinemaScope-Bilder von Roger Deakins sind zwei weitere Höhepunkte dieses in jeder Beziehung reichen Films.

Der große Abgang von der Leinwand

10) Gran Torino (USA 2008). Regie: Clint Eastwood. Man hätte Eastwood gleich mit mehreren Filmen in die Auswahl nehmen können, mit „Mystic River“ etwa oder mit „Million Dollar Baby“. Dass es „Gran Torino“ geworden ist, liegt daran, dass es wohl das letzte Mal war, Eastwood in Personalunion als Regisseur und Hauptdarsteller zu erleben. Wie er hier seinen Abgang als Schauspieler inszeniert, ist geradezu phänomenal. Er spielt einen nicht wenig rassistischen alten Menschenfeind, einen verbitterterten Veteran des Koreakrieges, den die Freundlichkeit seiner asiatischen Nachbarn allmählich ins Leben zurückholt. Am Ende ist er soweit, für die Jugend von nebenan in den Kampf zu ziehen gegen die Gangsterbande, von der sie terrorisiert wird. Eastwood geht wunderbar ironisch mit diesem bärbeißigen, politisch völlig unkorrekten Walt Kowalski um, bis er ihn in einen völig überraschend verlaufenden letzten Showdown schickt. Grandios.