Essen. Günther Jauch quetschte den querschnittgelähmten Samuel Koch über seinen Alltag und Suizid-Gedanken aus. Statt über die Behinderung und ihre Tücken zu informieren, erschöpfte sich die Sendung im Innenleben des verunglückten „Wetten, dass..?“-Kandidaten. Selten war die ARD so boulevardesk.

Günther Jauch darf nach dem Tatort mal wieder ein bisschen „Stern TV“ machen. Unter dem Deckmantel einer ARD-Politsendung quetscht er am Sonntagabend den querschnittgelähmten Ex-„Wetten, dass..?“-Kandidaten Samuel Koch sowie dessen Schwester und Vater aus. „Schicksalsschläge“ ist das Thema. Samuel Kochs Unfall ist ein prominentes Beispiel. Sein Schicksalsschlag berührte die Massen.

Samuel erinnert sich nicht mehr an seinen Unfall. Kann sich nicht an die Sekunden erinnern, als er mit Sprungstelzen ein von seinem Vater gefahrenes Auto überspringt und dabei unglücklich stürzt. Bis jetzt habe er nicht verstehen können, was schief ging, sagt Samuel, der langsam redet und seine Sätze geschliffen und wortgewandt formuliert. Immer wieder blitzt trotz aller Dramatik auch sein feiner Humor durch. „Lachen macht mehr Spaß als sich zu bemitleiden“, sagt Samuel.

Die Bilder des schrecklichen Unfalls in der „Wetten, dass..?“-Ausgabe vom 4. Dezember 2010 in der Düsseldorfer Messehalle habe er nicht verdrängt. Er habe sich den Sturz nachträglich noch mal angeschaut und analysiert. Die Verantwortung für den Sturz sucht er nicht bei anderen. „Wer sonst sollte Schuld sein außer ich?“, fragt Samuel.

Schmerzen hat Samuel noch immer im Hals- und Nackenbereich. Mal mehr, mal weniger. Auch düstere Gedanken schwirren durch Samuels Kopf. „Meistens nachts, wenn ich nicht abgelenkt bin.“ Dann empfinde er „eine Platzangst im eigenen Körper“ und sei „schon manchmal der Verzweiflung nah“. Günter Jauch reicht das nicht. Er will wissen, ob Samuel auch an Selbstmord dachte.

Samuel Koch spricht über Suizid-Gedanken

Um das zu erfahren, spricht Jauch kurz mit dem querschnittgelähmten Ex-MDR-Intendanten Udo Reiter. Dieser hatte nach einem Unfall vor 45 Jahren „kein Studium, keinen Beruf, kein Geld“ und, so sagt er, „ernsthaft vorbereitet, sich zu erschießen“. Der Abschiedsbrief war geschrieben, die Pistole der Marke „Smith-&-Wesson“ gekauft. Dann wurde Reiter klar, dass er doch nicht sterben möchte. Wie hält es Samuel mit dem Thema Suizid, fragt Jauch. „Meine Hände kann ich nicht benutzen, also fällt die Smith-&-Wesson-Variante aus“, kontert Samuel und schiebt ein „’tschuldigung“ nach. In der Reha-Zeit habe er sich den Himmel wesentlich besser vorgestellt, als ständig aus dem Bett an die Decke zu schauen und den entstehenden Staub zu beobachten.

Das Schicksal Samuels trägt die ganze Sendung. Als Einspieler gibt’s eine rührselige Homestory, musikalisch getragen von traurigen Piano-Klängen. Fotos von Samuel im Schlauchboot bei einem Ägyptenurlaub werden etwas später gezeigt. Auch wurden keine Kosten und Mühen gescheut, eigens ein TV-Team nach Marokko zu schicken um den dort lebenden Bestseller-Autor Philippe Pozzo di Borgo zu fragen, wie es mit Samuel Koch nun weitergehen soll. Der ebenfalls querschnittgelähmte Autor, derzeit auf Platz eins der Sachbuch-Bestsellerlisten, lieferte mit seinem Buch „Ziemlich beste Freunde“ die Grundlage für den gleichnamigen französischen Kino-Hit. Er rät Samuel: „Konzentriere dich auf das Jetzt.“ Er solle nicht der Vergangenheit nachtrauern.

Samuel Koch findet Kinofilm „Ziemlich beste Freunde“ kitschig

Rasch werden noch einige Szenen aus dem Erfolgsfilm gezeigt. Udo Reiter kritisiert den Film als „verzuckert“. Das sei schlicht „Gelähmtenkitsch“, der nichts mit der Realität zu tun habe. Samuel findet den Film lustig, wenngleich ihn schon wundere, wie schnell der Rollstuhlfahrer im Film seine Outfits ändern könne. „Bei mir dauert das manchmal eine Stunde.“

Nebenbei versucht Jauch mit seinen Gästen die Theodizee-Frage zu klären. Nikolaus Schneider, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, hat 2005 seine Tochter verloren. Sie starb an Leukämie. Sein Gottesbild habe sich durch den Schicksalsschlag verändert, aber er habe seinen Glauben an Gott nicht infrage gestellt, „sonst könnte ich nicht mehr predigen und Pastor sein.“ Gott solle man, so habe es Martin Luther geschrieben, lieben und fürchten. Die Dimension des Fürchtens habe Schneider erst lernen müssen. Auch Samuel Koch ist ein religiöser Mensch und richtete vor seinen Sprüngen Stoßgebete an Gott. Er sei „stark verwirrt“ gewesen, sagt Samuel, und sei nach dem Unfall im Glauben erschüttert, aber nicht gestürzt worden.

Substanzloser Emo-Talk statt Politsendung

Gerade noch ging es darum, wie sich im Film „Ziemlich beste Freunde“ Behinderte „von Nutten die Ohren kraulen lassen“ (Udo Reiter), da kommt plötzlich eine WG-Party zur Sprache, bei der Samuel Koch von zwei Frauen die Treppen hochgetragen worden sei, wie Jauch erfahren haben will. In Stuttgart sei das gewesen. Wie es dazu kam, will der investigative Jauch wissen. Samuel gibt mit seiner Mimik deutlich zu verstehen, was er von derlei Fragen hält. Jauch hakt nicht weiter nach, nachdem Samuel abwiegelt. Es hätte aber an diesem Abend nicht gewundert, wenn Jauch doch weiter gebohrt hätte, was bei Samuel im Bett noch so läuft, ob überhaupt noch was läuft. Denn Jauch war in der ARD noch nie so boulevardesk unterwegs wie am Sonntagabend.

Wäre es nicht eigentlich Aufgabe dieser Sendung gewesen, zu hinterfragen, inwieweit Samuel Kochs Beispiel überhaupt repräsentativ für die rund 100.000 Querschnittgelähmten in Deutschland ist? Welche Krankenkassen-Leistungen er erhält? Bei welchen Zahlungen der Sozialstaat knauserig ist? Inwieweit Samuel besser gestellt ist als der Rest der Behinderten in Deutschland, die vielleicht auf einer gefährlichen, dunklen Landstraße verunglückt sind und nicht vor zehn Millionen „Wetten, dass..?“-Zuschauern? All das blieb unthematisiert. Jauch bediente einzig und allein die Emo-Schiene wie eins bei stern TV und machte Werbung für Samuel Kochs neues Buch, das am Montag erscheint (23. April, Adeo-Verlag, 17,99 Euro).

Fazit: Die ARD-Oberen und im Speziellen die Jauch-Redaktion müssen sich die Frage gefallen lassen, wie ein derart substanzloser Emo-Talk noch in das Konzept einer „Politsendung (!) aus dem Herzen der Hauptstadt“ passt.