Essen. Kandidat David Pfeffer lobt Mentor Till Brönner, weil er “Mensch geblieben“ sei, Kassim Auale spricht mit ernstem Gesicht davon, dass er “an Reife gewonnen habe - Castingsendungen wie “X-Factor“ haben ihre eigene Sprache. Und die ist ebenso pathetisch wie unauthentisch.

Es ist kurz vor Mitternacht, als Kassim Auale zu Olaf Thon wird. Gerade ist er eine Runde weiter gekommen bei Sarah Connor, jetzt sitzt er auf einem weißen Sofa in der Vox-Lounge und redet mit Journalisten. Frage: Findet er, dass es bei "X-Factor" weniger ruppig zugeht als bei DSDS, wo er auch schon teilgenommen hat? Auale macht ein ernstes Gesicht: „Für mich besteht der elementare Unterschied im Augenmerk auf die Musik“. Dann fällt ihm ein, was das im Umkehrschluss bedeutet. „Das soll nicht heißen, ich wäre bei DSDS respektlos behandelt worden.“

Vielleicht muss er das sagen. Die Produktionsfirma von DSDS und "X-Factor" ist dieselbe, Kritik kommt jetzt wahrscheinlich schlecht. Außerdem steht die Kandidatenbetreuerin in der Nähe. Lieber ein anderes Thema. Bühne und Lampenfieber vielleicht. „Ich war nervös vor dem Auftritt, aber ich habe die Nervosität in etwas Positives verwandelt.“ Kassim, 20 Jahre alt, spricht häufig solche Sätze. „Ich habe an Reife gewonnen“, „Ich halte das Castingformat für erfolgreich“, „Das Bo ist mein Halt“. Manchmal wirkt Auale wie eine lebende Pressemitteilung.

Der Mentor ist "Mensch geblieben"

Und er ist keine Ausnahme. Auch andere üben sich im "X-Factor"-Sprech. Sein Mentor sei „Mensch geblieben“, sagt Kandidat David Pfeffer – so, als sei Trompetenmann Brönner gerade aus dem Schützengraben an der Somme geklettert. Sopranistin Nica will per "X-Factor" gleich ein ganzes Genre retten. „Ich fänd es schön, wenn die Leute durch unsere Musik die Liebe zur Klassik finden würden.“ „Jedes Lied erzählt eine andere Geschichte“, wusste die vergangene Woche ausgeschiedene Kandidatin Gladys wiederum.

Die Sprache bei "X-Factor" ist ein kurioser Mix. Auf der einen Seite das technokratische Leistungsgeschwafel („Wir sehen Potenzial in dir“, „Du musst jetzt noch mal alles geben“); auf der anderen der Emotionskitsch. Beide bedienen sich aus einem Setzkasten von Phrasen, die selbst dann unauthentisch wirken, wenn sie ehrlich empfunden sind. Von außen betrachtet scheint es, als hätten sich bestimmte Formulierungen der Teilnehmer bemächtigt wie aggressive Meme.

McKinsey-Deutsch trifft Kitschphrasen

Dass die Sprache der Castingshows unangenehmer wirkt als die anderer Unterhaltungssendungen hat mit ihren Quellen zu tun. Hier wächst zusammen, was nicht zusammen gehört (und was schon im Original nervt): das McKinsey-Deutsch der Leistungsstreber und die Kitschphrasen aus der Seifenoper.

Am Ende bleibt das Eigentor. Gerade die Castingshows, in denen angeblich „Menschen wie du und ich“ präsentiert werden – unverstellte Leute „von der Straße“ – kommen gestelzter und pathetischer rüber als manche Politikerrede. Da freut man sich schon über die kleinsten Anzeichen von Spontaneität. „Ich habe beim letzten Mal einfach verkackt“, sagt Kandidat Martin Madeja in der letzten "X-Factor"-Ausgabe. Wenigstens ein Satz, der nicht aus dem Drehbuch stammt.