Essen. Gangsterrap, Porno, sexualisierte Gewalt - für viele Jugendliche, aufgewachsen in einem lieblosen Umfeld, beruflich ohne Perspektive, wird Sexualität zum wichtigsten Lebensinhalt. Die ARD-Dokumentation "Letzter Halt Sex - Kids am Abgrund" hinterlässt beim Zuschauer einen schalen Beigeschmack.
Jenny sieht aus wie 18, ist aber schon 20 und zweifache Mutter. Ungefähr sechs feste Beziehungen habe sie bisher gehabt, erzählt die junge Frau mit der Porzellan-Haut vor der Kamera, alles andere seien One-Night-Stands gewesen. Wie viele ungefähr? Gute Frage, sagt Jenny , “ungefähr 60? Ich hab’ nicht mitgezählt.”
Cheeks ist 16 und tut so, als müsse er auf der Liste in seinem Handy nachsehen, mit wie vielen Mädchen er geschlafen hat, seit dem ersten Mal mit elf. Er kann sich nichts besseres vorstellen als Sex, und den hat er gern so sechsmal die Woche - mindestens. Babsi ist 18 und findet, man kann aus Pornos einiges lernen. Yasmina wollte wissen, was ihre Jungfräulichkeit wert ist und versteigerte sie im Internet. Das höchste Gebot: knapp 7000 Euro. Kein schlechtes Ergebnis, findet die 20-Jährige, “da merkt man ja, dass das dem Mann was wert war.” “Letzter Halt Sex - Kids am Abgrund” hat der Filmemacher (und Arzt und Psychologe) Manfred Bölk die 45-minütige Dokumentation genannt, die Mittwoch Abend um halb zwölf im Ersten lief. Nicht ohne die Warnung: “Der nachfolgende Film ist nicht für Jugendliche unter 16 Jahren geeignet.”
Ein bisschen geht’s um Gangster-Rap, mehr um Porno, und in den Geschichten, die die jungen Frauen erzählen, fast immer um sexualisierte Gewalt. Die 17-jährige Jacqueline kann sich nicht erinnern, wie alt sie war, als sie “zum ersten Mal” von ihrem Vater vergewaltigt wurde, bei Sandy 20, waren es die Brüder. Die Jugendlichen, die Bölk befragt hat, in sozialen Brennpunkten in Berlin und Hamburg, haben viel erlebt. Dabei ist das Schamgefühl offenbar auf der Strecke geblieben - bestimmt nicht alles, nicht in jeder Situation, aber über Sex reden diese jungen Männer und Frauen, als erzählten sie von Aktivitäten im Sportverein. Wie die 22-jährige Nadine, zweifache Mutter und wieder schwanger, die ihrem Mann gleich verkündete, sie könne nicht treu sein, und ihre Pläne für die Karriere im Sex-Geschäft darlegt.
Mehr im Kopf als Sex
Kein Halt in der Familie, keine Perspektive: Dass Sex da zur Ersatzdroge wird, ist keine Überraschung. Dass Menschen versuchen, mit Sex überhaupt mal wieder was zu spüren, wenigstens ein bisschen Spaß zu haben oder sich geliebt zu fühlen, ist allerdings kein Phänomen, das nur bei Jugendlichen aus zerrütteten Familien in Berlin-Hellersdorf anzutreffen wäre. Und das ist die Schwäche von “Letzter Halt Sex”: Wo Bölk möglicherweise Mitgefühl erzeugen will, indem er dem Bildungsbürgertum, das wochentags gegen Mitternacht Dokumentationen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sieht, diese Seite des Elends vorführt, stigmatisiert der Filmemacher die Jugendlichen noch mehr, als es das Leben bisher schon getan hat.
Ginge es Bölk um Jugendliche aus sozialen Brennpunkten, müsste mehr Thema sein als Sexualität. Ginge es ihm um die sexuelle Verrohung von jungen Leuten, hätte er auch Jungen und Mädchen aus anderen Gesellschaftschichten befragen müssen. So wiederholen sich schockierenden Geschichten bald. Und weil sie nur sehr grob vom Berliner Jugendpfarrer Bernd Siggelkow, dem Gründer des Christlichen Kinder- und Jugendwerks “Arche”, und einer Sozialpädagogin eingeordnet werden, viel mehr ohne Analyse aneinander gereiht werden, bleibt der schale Beigeschmack, dass diese seelisch verstümmelten jungen Menschen vorgeführt werden - und mit ihren Sex-Geschichten auch die Sensationslust der Zuschauer befriedigt wird.
Dass Jenny und Roger und Sandy und Cheeks tatsächlich mehr im Kopf haben als Sex, dass ihre Seelen noch längst nicht abgestumpft sind, erfuhren die Zuschauer erst, als die Jugendlichen ganz zum Schluss von ihren Träumen erzählen durften. Und die quellen über von dem, woran es ihnen im wahren Leben so mangelt: die emotionale Geborgenheit einer glücklichen Familie und die materielle Sicherheit eines Jobs.