Essen. Der Philosoph und Autor des Buches "Väter", Dieter Thomä, spricht im Interview über die deutsche Unschlüssigkeit in der Kinderfrage, gescheiterte Vätermodelle und die fatalen Folgen einer in Watte gepackten Kindheit.

Die Literatur für Väter boomt. Vor wenigen Monaten ist von Ihnen ein weiteres Buch zu diesem Thema erschienen. Warum? Eigentlich dürfte doch jede Frage rund um’s Vatersein beantwortet sein.

Zunächst ist es erfreulich, wenn viele Bücher über das Vatersein erscheinen, weil es zeigt, dass Bewegung ins Rollenspiel gekommen ist. Wenn man sich diese Bücher ansieht, stellt man jedoch fest, dass viele davon einen Nabelschaucharakter haben. Da reden Väter begeistert über den Geruch von Babyhaut oder wie es ist, Windeln zu wechseln. Mein Weg, über mich als Vater etwas herauszufinden, ist ein anderer. Dieser liegt nicht im Blick auf das Spiegelbild, sondern im Blick auf andere Vätergenerationen. Mit meinem Buch wollte ich daher die Frage beantworten, wie wir Väter von heute wurden, was wir sind.

In Begründungen, warum Männer und Frauen sich so schwer in der Kinderfrage tun, ist oft von Dingen die Rede, die sich auf die materielle Situation beziehen. Wie Kostendruck, mangelnde staatliche Unterstützung, berufliche Ambitionen. Sie hingegen favorisieren in Ihrem Buch andere, ideologische Erklärungen. Stichwort: ökonomischer Individualismus. Was verbirgt sich dahinter und warum taugt dieses Lebensmodell nicht in der Frage „Kind ja oder nein“?

Die Debatte über die niedrige Geburtenrate in Deutschland wird heute weitgehend ökonomisch, soziologisch geführt. Es ist ja auch sehr einfach, dieses Phänomen auf äußere Faktoren wie Kostendruck zurückzuführen. Sicherlich haben solche Erklärungen ihre Berechtigung. Man sollte sie aber nicht zur Ausrede werden lassen, sich vor inneren Konflikten zu drücken. Denn ich glaube, dass es in vielen Köpfen ein Ringen darüber gibt, was man eigentlich im Leben will. Es gibt ein Denkmuster, dass sich in vielen Köpfen breit gemacht hat, und das ist das Muster des ökonomischen Individualismus, das nach dem Prinzip funktioniert: Ich sollte Entscheidungen treffen, die mir am meisten nutzen. Es ist ein Denkmuster, das in der Kinderfrage in die Sackgasse führt. Denn legt man auf die eine Waagschale das Kind und auf die andere die Traumreise, kommt man schnell zu dem Ergebnis, dass die Waage bei dieser Gegenüberstellung nicht funktioniert. Warum? Weil man sich als Vater oder Mutter auf etwas einlässt, was im Grunde unvergleichlich ist und sich auch nicht vorhersehen lässt.

Was ist an der Erfahrung des Vater- oder Mutterseins so unvergleichlich?

Das Vatersein ist für mich insofern einmalig, als es wie keine andere Erfahrung ermöglicht, das Verhältnis zu den eigenen Eltern in einem neuen Licht zu betrachten und das eigene Kindsein auszuleben. Und was noch wichtiger ist: Man hat unmittelbar Anteil an der Entwicklung eines Menschen und macht so eine einmalige Bekanntschaft mit der Bejahung des Lebens.

In Ihrem Buch wünschen Sie sich nicht nur einen Abschied vom ökonomischen Individualismus, sondern auch vom Jugendkult. Warum das?

Zur Person

Dieter Thomä ist Professor für Philosophie an der Universität Sankt Gallen und Autor zahlreicher Bücher ("Eltern", "Vom Glück in der Moderne"). Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sein Buch "Väter" ist im Carl Hanser verlag erschienen.

Die Annäherung der Erwachsenen an die Jugendlichen führt dazu, dass letzteren das Ziel ihrer Entwicklung, die Pointe ihres Lebens genommen wird. Zur Identität der Jugend gehört ja das Gefühl, dass es immer weiter geht, dass das Leben eine Art Reise ist. Wenn aber Jugendliche immer mehr sich jugendlich gebärdende Erwachsene kennen lernen, dann entsteht bei ihnen der Eindruck, dass sie eigentlich so bleiben könnten wie sie sind. Auch den Erwachsenen ist nicht gedient, wenn sie die Unfertigkeit auf Dauer stellen und ein Leben im Konjunktiv führen – davon ausgehend, dass man alles von Partnerschaft bis Beruf jederzeit auch wieder umdrehen kann. Denn zu tiefer gehenden Erfahrungen zählt eine innere Ergriffenheit, und die erreicht man nur, wen man sich auf Dinge einlässt. Wozu eben auch die Vaterschaft zählt.

Ein Reizwort in diesem Zusammenhang ist für Sie der Begriff „Selbstverwirklichung“.

Mit dem Kult des Vorläufigen, den man beim Berufsjugendlichen beobachtet, geht das Streben nach Selbstverwirklichung einher. Die populäre Idee der Selbstverwirklichung beruht darauf, dass man sich - wie der Begriff es schon sagt - im Selbst noch nicht angekommen fühlt und man daher mit der Gegenwart nicht zufrieden sein kann. Menschen mit diesem Selbstverständnis warten auf etwas, ohne wirklich zu wissen, worauf. In diesem Prozess gibt es ja keine Zielflagge. Daher auch die verbreitete Absage an den Kinderwunsch. Ein Kind zu haben bedeutet nämlich, verbindlich, in der Gegenwart zu leben. In Abgrenzung zu Selbstverwirklichung spreche ich in dem Zusammenhang vom Elternsein daher auch lieber von Selbstverwandlung. Denn man ist hier nicht am Drücker, man lässt sich überraschen. Mein Lieblingssatz in diesem Zusammenhang ist ein Satz von Henry James: „Ich war mein ganzes Leben lang mein eigener Herr, und ich habe es satt.“

Zu den derzeit kursierenden Väterbildern, die Sie kritisieren, gehört das des Patriarchen. So fordert der Spiegel-Reporter Matthias Matussek die Rückkehr der bürgerlichen Kleinfamilie, in der der Mann für den Lebensunterhalt sorgt und die Frau zu Hause bleibt. Was ist für Sie an diesem Modell falsch?

Vielen erscheint die bürgerliche Kleinfamilie als heile Welt. Ich sehe sie eher als Neurosenfabrik. Die Väter haben in dieser Konstellation zwar das Sagen, aber keine Ahnung. Sie treten, wie Joseph Roth einmal gesagt hat, wie „fremde Könige“ auf. Die Mütter werden als „Heimchen am Herd“ funktionalisiert. Und den Kindern fehlt die Mehrstimmigkeit der Erziehung. Davon abgesehen entspringt das Modell patriarchaler Verhältnisse eher dem Wunschdenken ihrer Befürworter wie Matussek als den sozialen Realitäten und den Wünschen vieler Jugendlicher. Meine Studenten zum Beispiel bekennen sich weitgehend zu einer egalitären Aufgabenverteilung zwischen Mann und Frau, wenn es um Fragen der Erziehung und der Haushaltsführung geht.

Sie plädieren dafür, die Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die Familienkonstellation zu lenken, sondern auf das, was ein Vater besonders gut kann. Was zeichnet Ihrer Meinung nach einen guten Vater aus?

Die Überwindung des patriarchischen Vatermodells könnte in der Verbindung von groß und klein liegen. Das heißt: Der Vater kann groß und stark sein, indem er dem Kind Schutz bietet, und trotzdem das sprichwörtliche „Kind im Manne“ zu seinem Recht kommen lassen.

Welches von der Mutter jedoch nicht immer gern gesehen wird …

Richtig! Meine Frau sagt bei meinen kindlichen Anwandlungen gelegentlich, sie hätte nicht zwei, sondern drei Kinder.

Wobei Sie sich vom Modell des Vaters als Spielpartner des Kindes entschieden abgrenzen.

Vor der Trennung von Privat- und Berufswelt gab es bis hin zur Kinderarbeit eine viel stärkere Einbindung der Kinder in das Erlernen von Fähigkeiten, die zum Überleben notwendig sind. Nun haben wir das Problem, dass das andere Extrem eintreten kann, nämlich das Extrem einer in Watte, in Konsum gepackten Kindheit. Mit der Folge, dass das Kind gar nicht mehr registriert, dass selbst zum Überleben im Wohlstand Anstrengungen gehören. Was problematisch ist, da das Leben in den nächsten Jahrzehnten nicht gerade leichter wird. Ich plädiere daher dafür, dass Eltern ihre Aufgabe nicht ausschließlich in der Schaffung von Freiräumen sehen, in denen hemmungslos gespielt wird. Vielmehr sollten sie, insbesondere die Väter, ihren Kindern die Fertigkeiten vermitteln, die das Leben in der Erwachsenenwelt erleichtern. Wer das als nicht kindgerecht ablehnt, übersieht, dass Kinder das Erlernen neuer Fähigkeiten durchaus als positiv erleben. Zur Entwicklung von Kindern gehört ja auch die Befriedigung, dass man etwas kann, was eigentlich nur Erwachsene können.

Zum Abschluss eine persönliche Frage: Was ist Ihre wichtigste Erfahrung, die Sie als Vater gemacht haben?

Ich nehme mich nicht mehr so wichtig.

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