Frankfurt/Main. Für seinen DDR-Roman “Kruso“ wurde der Lyriker Lutz Seiler jüngst mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Die poetische Aussteigergeschichte aus dem Sommer 1989 kurz vor der Wende ist Seilers Debüt als Romanautor. Wie er den weiten Weg zwischen Lyrik und Prosa überwindet, verrät er im Interview.

Seine Stimme ist leise, er hält den Kopf leicht gesenkt und schaut nur ab und zu auf, ob sein Gegenüber ihn auch richtig verstanden hat. Dem Trubel der Frankfurter Buchmesse scheint Lutz Seiler leicht entrückt. Als wäre er selbst eine Insel wie jenes sagenhafte Hiddensee, von dem sein Roman „Kruso“ erzählt: Ein Vor-Wenderoman aus dem Sommer 1989, der den Aufbruch ins Innerste seiner Figuren verlegt, eine ins Phantastische übersteigerte Realitätsflucht aus dem DDR-Alltag. Die nun, im Jahr 25 nach dem Mauerfall, mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Mit Lutz Seiler sprach Britta Heidemann.

Herr Seiler, die Insel Hiddensee war zu DDR-Zeiten ein Sehnsuchtsort – waren Sie selbst dort, damals?

Lutz Seiler: Ich war tatsächlich auf dieser Insel, im Sommer 1989, als Saisonkraft. Aber das ist kein autobiografisches Buch, auch wenn ich großen Spaß daran hatte, dieses ausgestorbene Handwerk des Abwäschers zu beschreiben. Eigentlich sollte dieser Insel-Stoff nur ein Kapitel eines anderen Romans werden.

Was für ein Roman sollte das sein?

Seiler: Er sollte in der Nachwendezeit spielen, ich habe da viel recherchiert, Konzepte gemacht. Ich habe so viele Vorarbeiten unternommen, dass das Scheitern programmiert war. Und ganz anders lief es dann mit der Geschichte dieses Romans: Ich hatte nichts, ich hatte nur ein paar Bilder, denen ich absolut vertrauen konnte.

Nämlich?

Seiler: Das allererste Bild war das des russischen KGB-Generals, der am Ende des Romans wie ein Deus ex machina auf der Insel auftaucht, um seinen Sohn Krusowitsch, also Kruso, heimzuholen. Ich habe gesehen, wie er am Strand steht und die Ostseewellen machen seine Hosenbeine nass. Ich habe diese sowjetische Uniform gesehen, diese sowjetischen Hosenbeine, und die kleine Welle. Keine Ahnung, wieso. Aber das war das Eingangsbild.

Den Klausner, diese Gaststätte, gab es wirklich – im Roman scheint dieser Ort der Welt aber schon sehr entrückt.

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Seiler: Der Klausner ist eine Betriebsgaststätte gewesen, ein Betriebsferienheim. Heute ist die damalige Tresenchefin die Inhaberin. Es gibt ein paar Details, die stimmen, und die ich brauche, um von dort aus ins Erfundene zu kommen, bis hin zum Phantastischen. Bis dahin, dass tote Füchse sprechen können. Die Saisonarbeiter hat es so nur dort auf der Insel gegeben, später nie wieder. Diese Situation, dass dort Kellner, Köche, Abwäscher arbeiten, die aber gar keine Kellner, Köche, Abwäscher sind. Sondern Philosophen, Soziologen, Maler, Dichter. Menschen, die man zu den Aussteigern oder Ausgestoßenen dieses Landes zählen könnte, die versucht haben, auf der Insel in diesem Milieu, als Betriebsfremde, ein selbstbestimmtes Leben zu leben. Ed, der auf die Insel geflüchtet ist nach einem großen Unglück, kann bei Chefkellner Rimbaud etwas über französische Literatur lernen. Oder von Cavallo etwas über Soziologie erfahren. Das ist eine Art zweiter Bildungsweg für ihn.

Dieses Unglück, das Ed widerfahren ist, erklärt sich erst nach und nach – seine Freundin ist gestorben.

Seiler: Ja, und man weiß nicht genau, ob es nicht eine Art Freitod geworden ist. Dieses Unglück hat auch Kruso erlebt, beide haben ihren liebsten Menschen verloren. Für Kruso ist es die Schwester Sonja, die wahrscheinlich bei einem Fluchtversuch ertrunken ist. Das schweißt sie zusammen, obwohl sie nie darüber sprechen, was sie beide am meisten quält. Sie verständigen sich über Gedichte, die wie Kassiber zwischen ihnen hin- und hergehen.

Sie selbst sind ebenfalls über Gedichte zur Literatur gekommen – im Lesen wie im Schreiben, richtig?

Seiler: Ich habe in meiner Kindheit ein paar Abenteuerbücher verschlungen, als Jugendlicher aber nicht gelesen. Das fing erst während meiner Armeezeit an. Da waren wir damit beschäftigt, solche Laubsägearbeiten zu machen, thüringischen Weihnachtsschmuck auszusägen. Dafür war ich aber nicht besonders begabt. Als ich dann alle Reservesägeblätter meiner Stubenkameraden zerbrochen hatte, wurde ich vom Tisch verbannt.

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Es gab da eine Gewerkschaftsbibliothek, die Bücher aussortierte, für fünfzig Pfennig das Stück. Ich habe wahllos angefangen zu lesen. Später musste ich mich erst daran gewöhnen, dass es ein Lesen ohne Holzbearbeitungsgeräusch im Hintergrund gibt, und ohne diesen feinen Staub auf den Schleimhäuten (lacht). Ein Edelstein unter diesen Büchern waren Gedichte von Peter Huchel. Eine Erstausgabe von 1948 im Aufbau-Verlag. Die war auch aussortiert worden, vielleicht, weil es nur zwei Entleihungen gab, und wurde für eine Mark verkauft. Obwohl das Buch damals schon viel wert war. Das habe ich auch erst später erfahren.

Und heute sind Sie Huchel-Experte.

Seiler: Das gehört zu den vielen biografischen Zufällen. Ich leite jetzt schon seit 17 Jahren das Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst. Aber als ich damals in diesen Ort kam, wusste ich gar nicht, dass Huchel dort gelebt hatte.

Sie leben heute in Wilhelmshorst – und in Stockholm, verrät ihre Biografie. Wie geht das?

Seiler: Meine Frau ist Schwedin und arbeitet dort an der Universität, unser jüngster Sohn ist 15 und geht dort zur Schule. Die älteren beiden studieren in Berlin – Medizin und Musik. Ich pendle seit vier Jahren zwischen Stockholm und Deutschland, bin jeweils 14 Tage hier und 14 Tage dort. In Stockholm schreibe ich.

Ganz ähnlich pendeln Sie zwischen Lyrik und Prosa.

Seiler: Ja, das stimmt. Das Leben hin zum Gedicht ist ein anderes Leben als das Leben hin zum Roman. Man kann zwischen diesen Leben hin und her gehen, aber der Weg ist ziemlich weit.

Wie muss man sich das vorstellen, ein Leben auf ein Gedicht hin?

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Seiler: Ein Gedicht braucht andere Wahrnehmungszustände, eine konzentrierte Form der Abwesenheit, aus der heraus man versucht, an den üblichen Kausalitäten und Begriffen vorbei das stärkste Bild abzuschöpfen. Für einen Roman lauscht man auf die Wirklichkeit, hört zu, wie Menschen reden, wie sie aussehen. Das sind zwei ganz unterschiedliche Daseinsarten.

Was wird Ihre nächste Arbeit?

Seiler: Ein Roman, er wird an diesen anschließen. In „Kruso“ ist ja die Zeit zwischen 90 und 93 vollkommen ausgespart, das wird die Handlungszeit fürs neue Buch: das Berlin der Nachwendezeit.

Das ist aber nicht das, was Sie vor „Kruso“ bereits begonnen hatten?

Seiler: Doch, das wäre schon dieses Buch. Ich musste offensichtlich diesen Schritt zurücktreten und zuerst die Vorgeschichte erzählen. Und wenn es klappt, wird es genau dieser Roman, an dem ich schon ein Jahr lang gearbeitet habe. Das wäre natürlich schön.