Minsk. Traumatische Kriegserlebnisse von Kindern hält Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch “Die letzten Zeugen“ fest. im Interview spricht die weißrussische Schriftstellerin über Krieg und Frieden - und die Rolle Russlands im Ukraine-Konflikt.
Die in der Ukraine geborene weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch (66) ist tief erschüttert vom Kriegsgeschehen in der Ex-Sowjetrepublik. "Nur nach einigen Generationen lässt sich so etwas vergessen", mahnt die im vergangenen Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Autorin im Interview der Deutschen Presse-Agentur mit Blick auf den Krieg in der Ostukraine. Am Montag erschien auf Deutsch ihr 2008 in Russland veröffentlichtes Buch "Die letzten Zeugen" über Kindheitserinnerungen im Zweiten Weltkrieg (Hanser Berlin).
Ihr Buch handelt von Krieg. Und wieder ist an einem der Handlungsorte Krieg, im Osten der Ukraine - wie erleben Sie das?
Swetlana Alexijewitsch: Ich habe viel über Krieg geschrieben - Jahrzehnte. Ich war im sowjetischen Krieg in Afghanistan und habe mit eigenen Augen den Tod gesehen. Und all die Zeit wollte ich Worte finden, um über den Krieg zu schreiben, damit den Menschen schon beim Gedanken an den Krieg schlecht wird. Ich verstehe bis heute nicht, wie ein Mensch einen anderen töten kann. All dieses Gerede über nationale Interessen - soll das etwa eine Mutter beruhigen, deren Sohn getötet wurde? Wenn ich jetzt vor dem Fernseher und Computer die ukrainischen Ereignisse verfolge, denke ich nur immer daran. Die Helden meiner Bücher über den Krieg sind Frauen und Kinder. Sie sind weniger der Kultur des Krieges verhaftet. Sie werden nicht von klein an daran gewöhnt, dass sie töten sollen. Aber Männer sind Gefangene dieser Kultur des Krieges.
Sie sind selbst in der Ukraine geboren. Sehen Sie eine Chance, dass sich Ukrainer und Russen wieder versöhnen?
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Swetlana Alexijewitsch: Meine Mutter ist Ukrainerin. Und ich habe meine ukrainische Großmutter sehr geliebt, die schöne ukrainische Lieder singen konnte. Den Klang der ukrainischen Sprache habe ich geliebt. Wenn wir als Kinder den Erwachsenen zugehört haben, machten sie uns oft Angst: "Die Russen kommen gleich, um Euch zu holen." Sie erzählten schreckliche Geschichten. Und jetzt kommt zu diesen Erinnerungen noch das hinzu, was sich heute abspielt in der Ukraine: auf dem Maidan in Kiew, in Odessa, im Donbass. Nur nach einigen Generationen lässt sich so etwas vergessen. Erst Generationen nach Putin.
Viele halten Kremlchef Wladimir Putin für den Hauptschuldigen im Ukraine-Konflikt. Wie sehen Sie die Rolle Russlands?
Swetlana Alexijewitsch: Den Krieg im Osten der Ukraine gäbe es nicht - ohne Russland. Wenn es nicht Putin mit seiner geopolitischen Strategie gäbe. Einem Menschen mit einer Vergangenheit beim sowjetischen Geheimdienst KGB und mit einem sowjetischen Gedächtnis macht Blutvergießen keine Angst. Unsere Geschichte ist voller Blut: Stalins Gulag, der Zweite Weltkrieg, Millionen starben. Alles nur um den Willen angeblich höherer Ziele.
Der russische Staat hat immer darauf gespuckt, dass die Menschen nicht sterben wollen - auch heute. Der russische Patriotismus ist ein altbewährtes Mittel, um billig Soldaten zu finden. Heute rekrutieren die Wehrkreisämter in ganz Russland Freiwillige für den Krieg in der Ukraine. Danach werden sie in Särgen zurückgeschickt. Geheim begraben. Nachts. Wie damals, als sie die sowjetischen Soldaten in Zinksärgen aus Afghanistan zurückbrachten.
Und was passiert mit der Ukraine, wie könnte es weitergehen?
Swetlana Alexijewitsch: Die Ereignisse entwickeln sich mit einer solchen Geschwindigkeit. Ein unglückliches zerrissenes Land. Vor einigen Jahren fuhr ich dorthin zu Verwandten. Es gab noch keinen Krieg. Aber sie lebten wie nach einem Krieg. Es ist eine ideell verlorene und gespaltene Gesellschaft und Elite. In diesen Tagen hat eine Masseneinberufung begonnen. Viele wählen die Emigration. Mir scheint, dass Kiew kaum noch Einfluss hat auf die Ereignisse. Auch Putin nicht. Es ist das Schlimmste überhaupt passiert: Ein Sturm steuert die Ereignisse. In der Sowjetunion gab es in vielen Städten - auch in der Ukraine - Panzer auf Postamenten als Denkmäler für den Zweiten Weltkrieg. Die Aufständischen haben sich diese Panzer von den Sockeln geholt und kämpfen wieder damit. Darauf steht in roter Farbe: "Für Stalin!" Sie verleiben sich auch alle Waffen in den Kriegsmuseen ein. Es geht absurd zu wie in den Werken von Ionesco.
Und der Westen, ist Politik der Sanktionen gegen Russland der richtige Weg?
Swetlana Alexijewitsch: Na, was könnte denn noch getan werden heute? Entweder Sanktionen oder ein Dritter Weltkrieg? Die Auswahl ist nicht groß, wenn die gegenwärtige Weltordnung aufhört zu funktionieren. Ich denke, dass Putin dies einmal mehr ausnutzt. Er weiß, dass in Europa niemand einen neuen Weltkrieg will. Aber sprechen Sie mal mit den russischen Menschen, besonders in der Provinz, die sind bereit und gehen kämpfen - sogar die jungen Leute. Und dann reden Sie mal mit jungen Menschen in Paris oder Amsterdam.
Gerade erinnert die Welt an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Sie haben viel über Kriege geschrieben. Hat die Menschheit etwas gelernt?
Swetlana Alexijewitsch: Ich möchte hoffen, dass das so ist. Und ein Dritter Weltkrieg nicht kommt. Es ist doch so interessant zu leben. (dpa)