Recklinghausen. . Ruhrfestspiel-Intendant Frank Hoffmann verlegt Luigi Pirandellos „Heinrich IV.“ in den italienischen Faschismus. Fast durchweg gelingt das überzeugend – und mit exzellenten Leistungen des Schauspiel-Ensembles. Besonders prägnant: Der als ZDF-Kommissar „Stolberg“ bekannte Rudolf Kowalski.
Vor 20 Jahren ist „Er“ (Rudolf Kowalski) beim Maskenball vom Pferd gestürzt; eine schwere Schädelverletzung hat damals seinen Verstand getrübt, führte zu Wahnvorstellungen. Beim sizilianischen Literatur-Nobelpreisträger Luigi Pirandello hält sich der Kranke fortan für den deutschen König Heinrich IV., der 1076/77 den Gang nach Canossa zu Papst Gregor VII. antrat. In Recklinghausen, wo Ruhrfestspielchef Frank Hoffmann das 1922 uraufgeführte Drama als Koproduktion mit dem Nationaltheater Luxemburg eingerichtet hat, erlebt der Zuschauer eine über weite Strecken überzeugende „Adaption“. Die von einer exzellenten Ensembleleistung getragene Inszenierung ist dabei nicht „frei nach“ Pirandello; die Ruhrfestspiel-Fassung schreibt vielmehr Gedanken und Intentionen des Autors fort.
Eine düstere, an die faschistische Monumentalarchitektur gemahnende Villa in den 40er Jahren (Ausstattung: Ben Willikens): „Er“ hält sich nicht für den Salierkaiser, sondern für den italienischen Diktator und Faschistenführer Benito Mussolini. Dieses Kostüm hatte er zum Zeitpunkt des Unfalls, der von einem eifersüchtigen Rivalen herbeigeführt worden war, gewählt. Der Zeit entsprechend wandeln sich die Personen, die den Versuch unternehmen, Heinrich/Mussolini von seinem Wahn zu heilen; so wird aus Heinrichs historischer Unterstützerin Mathilde von Tuszien Signora Bertha (Anne Moll).
Wahnsinnig aus Selbstschutz
Nervenarzt Genoni (Maik Solbach), der selbst den Charlie Chaplin gibt und „wie Goebbels“ aussieht, setzt auf die Rekonstruktion des fatalen Kostümfestes, will per Schocktherapie Heinrichs Trauma beenden. Bertha und Tochter Frida (Sinja Dieks als jugendliches Ebenbild der Mutter) erscheinen folglich als Leni Riefenstahl, Fridas junger Ehemann Di Nolli (Marc Baum) ist ein Minister, Baron Belcredi der britische Premier Neville Chamberlain, Königin Elena tritt auf…
Zum Stück
Die Hauptrolle spielt der als ZDF-Kommissar „Stolberg“ bekannte Rudolf Kowalski. Er erweist sich als Charakterdarsteller von Rang und Meister der leisen Töne. Er vermittelt die seelische und geistige Ambivalenz der Figur mit ungeheurer Intensität auf dem schmalen Grat aus „krank“ und „gesund“.
Weitere Termine: 12., 13. und 14. Mai (jeweils 20 Uhr). Karten: Tel. 02361-92180
Doch Heinrich durchschaut das verrückte Spiel; er ist längst geheilt und verharrt bewusst in der Rolle des Wahnsinnigen, um seinerseits den anderen, den „unbewusst Wahnsinnigen“, ihre Masken gesellschaftlicher Normierung zu entreißen. Zugleich sehnt er sich nach eben dieser Normalität. Doch die von Genoni herbeigeführte Konfrontation mit der einst angebeteten Bertha/Riefenstahl bewirkt einen neuerlichen Schock. Als Heinrich Belcredi als Verursacher seines Unfalls identifiziert und erschießt, muss er aus Selbstschutz die Rolle des Wahnsinnigen weiterspielen.
Verständnis und Einordnung nicht immer leicht
Pirandello, der in der Ehe mit seiner psychisch erkrankten Frau Antonietta täglich selbst mit der Frage nach Wahnsinn und Normalität konfrontiert war, zeichnet in „Heinrich IV.“ eine Welt nach, in der Illusion und Wahrheit, Schein und Sein sich nicht trennen lassen, in der alles Erkennen und Selbsterkennen relativ ist. So gesehen, wird Frank Hoffmanns Ansatz, das tragikomische Drama vom elften ins 20. Jahrhundert zu übertragen, dem zeitlosen Gehalt des Stückes absolut gerecht.
Der Ansatz birgt aber auch eine Gefahr. Denn die zahlreichen Verweise und Anspielungen auf die ambivalente Beziehung zwischen Mussolini und Hitler, auf Projekte der italienischen Faschisten wie die Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe oder politisch-militärische Unternehmungen, auf das Wesen des italienischen Faschismus überhaupt und in Abgrenzung zu NS-Deutschland machen selbst dem geschichtlich grundinformierten Zuschauer Verständnis und Einordnung nicht immer leicht.
Berechtigter Beifall, der, wie eigentlich immer bei den Ruhrfestspielen, deutlich stärker als „normal“ ausfiel.