Peking. Ai Weiwei ist einer der berühmtesten Künstler der Gegenwart. Am 3. April eröffnet in Berlin seine bisher größte Ausstellung, doch Ai darf sein Heimatland China nicht verlassen. Im Interview spricht er über den Traum von einem demokratischen China, Vertrauen und seine Sorge um die Menschheit.

Die bisher größte Ausstellung des berühmtesten chinesischen Künstlers der Gegenwart, Ai Weiwei, öffnet kommende Woche (3. April) im Martin-Gropius-Bau in Berlin ihre Pforten. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping ist schon an diesem Freitag zu einem Besuch in Berlin. In einem Interview spricht Ai Weiwei über die schwere Vertrauens- und Identitätskrise, unter der sein Land leide. Chinas Führer müssten Meinungsfreiheit erlauben und von ihrer Macht abgeben, wenn sie überleben wollten.

Was verstehen Sie unter dem "Chinesischen Traum"?

Ai Weiwei: Der "Chinesische Traum" heißt für mich, wie wir eine Gesellschaft schaffen, die grundlegende Rechte schützt, damit sich jeder sicher fühlt. Nur wer Meinungsfreiheit hat, kann Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen. In China gibt es keine Tradition, sich in öffentliche Angelegenheiten einzumischen. Die Menschen verstecken ihre Ansichten und versuchen, nicht Opfer zu werden. Wir haben Generationen erlebt, die zerstört wurden, weil sie versucht haben, den Mund aufzumachen.

Viele Chinesen verlassen ihr Heimatland. Was bedeutet das?

Ai: Es gibt kein Vertrauen. Niemand will etwas in die Zukunft investieren. In dieser Gesellschaft wurde nichts von der Vergangenheit geerbt. Kein Land. Kein Besitz. Kein Geld. Nicht dein altes Dorf. Nicht die Straße, in der deine Familie lebt. Jeder bewegt sich hin und her. Es gibt keine Nachbarschaften. Niemand spricht mit den Leuten nebenan. Niemand teilt Informationen. Du weißt nicht, wem dein Wohnhaus gehört. Alles ist ein Geheimnis. Es ist eine Gesellschaft ohne Vertrauen. Sie hat keine gemeinsamen Werte, die es zu schützen gilt. Dann gibt es eine Regierung, die sich niemals einer Herausforderung ihrer Legitimität stellt. Sie vertraut den Leuten nicht, denen sie dienen soll. Auch soll das Volk nicht über sie abstimmen dürfen. Wovor haben sie Angst?

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Ja, was fürchten die Führer?

Ai: Wie jede Diktatur fürchten sie den Verlust der Macht, der einflussreichen Familienverbindungen. Das ist ganz einfach. Alle Diktaturen sind sich ähnlich.

Würde die Kommunistische Partei Wahlen gewinnen?

Ai: Ich hoffe, dass sie gewinnen können. Wenn sie durch echte Wahlen gewinnen, gratuliere ich ihnen, weil es die Entscheidung des Volkes ist. Vielleicht arbeite ich dann sogar für sie.

Ihre Gegner werfen Ihnen vor, extrem zu sein. Stimmt das?

Ai: Wie kann ein verletzliches Individuum extrem sein? Ist es extrem, wenn ich frage, wer mir auf den Kopf geschlagen hat? Ist es extrem, wenn ich frage, warum ich inhaftiert oder freigelassen werde? Ist es nicht vielmehr extrem, wenn meine Freunde, die weniger radikal sind als ich und der Partei und Gesellschaft helfen wollen, hinter Gitter gebracht werden? Ist es nicht extrem, wenn ich so tue, als wenn ich diese Dinge nicht wüsste? Oder wenn ich so tue, als wenn diese Gesellschaft so glorreich wäre, und andere Meinungen nicht zulasse? Ich denke, das ist extrem. Und es ist extrem, wenn du jemanden sterben siehst und nicht hilfst.

Sorgen Sie sich um Ihr Land?

Ai: Ich sorge mich nicht allein um mein Land, sondern um die Menschheit. China ist mächtiger als je zuvor und hat einen hohen Status in der Welt. Wie es sich auf die Menschheit auswirkt und welche Richtung es nimmt, beeinflusst jeden.

Kann China ein "verantwortlicher Teilhaber" in der Welt sein?

Ai: Das hängt von Chinas Handeln ab. Es spiegelt seine Philosophie und sein Verständnis davon wider, wie seine Rolle in der Welt aussehen kann. Wir können nicht einfach nur zuhören, sondern müssen uns das Handeln anschauen. Daran erkennen wir, ob wir Vertrauen haben können.

Aufbau der der Ai Weiwei-Ausstellung im Berliner Gropius-Bau.
Aufbau der der Ai Weiwei-Ausstellung im Berliner Gropius-Bau. © dpa

Ist China auf der Suche nach sich selbst?

Ai: China ist in einer schweren Identitätskrise. Der Grund liegt in einer langen Vernachlässigung intellektueller Kommunikation. Es kommt daher, dass die "Macht aus den Gewehrläufen kommt". Das ist wirklich ein Problem, weil sich die Macht von brutaler Gewalt herleitet. Obwohl sie heute die Macht innehaben, müssen sie diese mit Gewalt verteidigen. Wenn Chinas Führer nicht gewisse Macht abgeben, werden sie Selbstmord verüben. Sie können nur überleben, wenn sie bereit sind, etwas abzugeben. Dann werden sie nicht jemand sein, der kontrolliert, sondern verhandelt und kooperiert.

Würden Sie gerne Ihre Ausstellung in Berlin besuchen?

Ai: Als Künstler ist es gut und manchmal notwendig, vor Ort zu sein - um zu erklären, sich auszutauschen und selbst zu lernen. Aber die Möglichkeiten im Leben sind beschränkt, zumindest in meinem Leben. Ich bin das gewohnt. Mein Vater (der Dichter Ai Qing) durfte 20 Jahre nicht schreiben. Als Poet durfte er seinen Stift nicht benutzen. Also meine Lage könnte schlimmer sein. Ich weiß die Möglichkeiten zu schätzen. Ich kann noch künstlerisch arbeiten.

Wenn Sie Ihren Pass bekommen und reisen dürfen, haben sie nicht Angst, nicht wieder nach China gelassen zu werden?

Ai: Wir leben in einer Zeit, in der nichts sicher ist. Wir müssen Tag für Tag und Schritt für Schritt leben, das Richtige tun. Wer weiß? Wenn ich schon nicht weiß, warum sie meinen Pass festhalten, wie kann ich wissen, ob sie mich wieder reinlassen.

Was ist Ihr liebstes Kunstwerk in der Ausstellung?

Ai: Mein Lieblingsstück ist die Tatsache, dass ich nicht an der Ausstellung teilnehmen darf. Das ist ein Kunstwerk an sich. Es spiegelt eine menschliche Verfassung wider. Wie viele Ausstellungen gibt es in dieser Welt, bei der der ausstellende Künstler nicht dabei sein kann, weil es ihm nicht erlaubt wird?

Die Ausstellung beginnt genau drei Jahre nach Ihrer Festnahme. Haben Sie die Inhaftierung heute bewältigt?

Ai: Über eine Geiselnahme kommt niemand hinweg. Eine Gefangenschaft ist so gewalttätig. Es gibt keinen Raum für Kommunikation oder Verhandlungen. Jemanden in Haft zu halten, heißt immer, ihm das Recht auf Leben abzusprechen. Es zerstört die Werte, die uns wichtig sind: Sicherheit, Schutz, Kommunikation, Verständnis. Das alles wird dir als Geisel genommen.

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Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping ist am Freitag zu Besuch in Berlin. Sollte er sich die Ausstellung ansehen?

Ai: Ich würde diesen Gentleman gerne einladen, sich mit einem chinesischen Künstler auseinanderzusetzen. Wir sind gleich alt, haben den gleichen familiären Hintergrund. Unsere Väter waren beide (in der Revolutionsbasis) Yan'an, bevor die Kommunisten die Macht übernahmen. Sie waren sogar sehr gute Freunde. Vielleicht kann Xi Jinping meine Anstrengungen und mein Verständnis von unserer Zeit verstehen, wenn er die Ausstellung sieht. Dort lauert keine Gefahr. Es sind doch nur künstlerische Formen und Strukturen.

Worüber würden Sie mit ihm reden, wenn Sie könnten?

Ai: (lacht) Ich würde mit ihm über Kunst sprechen. Warum mir diese Dinge wichtig sind. Ein Künstler besitzt eine einzigartige Beziehung zur Ästhetik, die mit Moral und Philosophie zu tun hat. Er muss Verantwortung tragen und als Teil der Gesellschaft fungieren.

Würden Sie Kritik üben?

Ai: Ich bin ein sehr ehrlicher Mensch. Wir hätten uns viel zu sagen. Er ist sehr intelligent. Da gibt es keine Probleme. Wir haben viel gemeinsam. Es scheint, als wenn wir uns beide um diese Nation sorgen. Wir tragen beide gewisse Verantwortung - er durch die Politik, ich durch meine künstlerische Arbeit und meine Stimme. Er vertritt den Staat. Ich vertrete ein Individuum. Der Staat besteht aus 1,3 Milliarden Individuen wie mir. Aber er muss keine Angst haben: Er hat 80 Millionen Parteimitglieder hinter sich.

Deutsche Freunde fordern die Kanzlerin auf, Ihre Reisefreiheit gegenüber Xi Jinping anzusprechen. Hätten Sie das gerne?

Ai: Ich weiß, die beiden haben viele sehr, sehr wichtige Dinge zu besprechen. Ich bin nur ein Individuum. Die Kanzlerin hat mir in der Vergangenheit schon viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ich bin den Deutschen sehr dankbar - all jenen, die überzeugt sind, dass das Schicksal eines einzelnen Menschen alle betrifft. Die Frage ist doch, was für eine Gesellschaft wir sein wollen. Tolerieren wir eine Gesellschaft, die irrational ist und Beweggründe verbirgt, über die niemals gesprochen werden darf? Das ist schon sehr kritisch und könnte die ganze Welt in Gefahr bringen. Es ist nicht eine Frage, ob Ai Weiwei reisen darf oder nicht. Es geht um Vertrauen. Wenn es kein Vertrauen gibt, wenn etwas hinter der Hand gehalten wird, sind wir nicht zivilisiert. Das ist gefährlich. (dpa)