Köln. . Mit einer blickdichten Schlafmaske über den Augen kann man eine Stadt wie Köln nur hören, riechen und ertasten. Hier gibt es die bundesweit einzige Stadtführung, bei der man nichts sieht. Augen zu und durch die Stadt – ein Selbstversuch.
Bis eben war noch alles in Ordnung. Die rechte Hand umfasste ganz locker die Lasche am Rucksack des Vordermannes. Das garantierte Halt. Und die Stimme von Johannes Geyer, via Kopfhörer im Ohr, sorgte für Orientierung. „Jetzt bitte ganz eng zusammenrücken, hier wird’s sehr eng“. Oder: „Und nun kommt eine scharfe Rechtskurve.“ Sätze, auf die man baut, ja bauen muss, wenn man zwei Stunden lang blind ist, sich aber trotzdem vorwärts bewegt, durch eine Stadt, die man eigentlich zu kennen glaubt, aber plötzlich so gar nicht mehr kennt.
Eine Stadt, die an diesem Samstagnachmittag voller Menschen ist, voller Gerüche und Geräusche – und jeder Menge, bis dato, ungeahnter Hindernisse. Dann ist der Mini-Kopfhörer vom Ohr gerutscht. Stimme weg. Orientierung weg. Lasche losgelassen – Rechtshänder machen das automatisch – um die Strippe vom Kopfhörer zu ertasten. Anschluss zur Gruppe verloren. Ein Gebüsch gestreift – und dann die Notbremse gezogen. Ich lupfe meine Maske und verschaffe mir kurzzeitig Durchblick. Das Sonnenlicht blendet. Ah, ja – Heinrich Böll-Platz, Richtung Rhein, hier sind wir. Und da sind auch die anderen. Schnell hinterher.
Mit einer blickdichten Schlafmaske über den Augen kann man eine Stadt wie Köln nur hören, riechen und ertasten. Hier gibt es die bundesweit einzige Stadtführung, bei der man nichts sieht. Ausgedacht hat sich diese ungewöhnliche Art, eine Metropole zu erkunden, Dr. Axel Rudolph. Der 57-Jährige ist gebürtiger Hesse, seit 35 Jahren Wahlkölner, und von Hause aus Wirtschaftswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Psychologie. Für die „Stiftung Blindenanstalt“ in Frankfurt realisierte er die Ausstellung „Dialog im Dunkeln“: Besucher betraten dabei eine dunkle Welt, in der sie, mit Geräuschen, Gerüchen oder unterschiedlichem Bodenbelag konfrontiert wurden – und das Gefühl hatten, sich in einem Park, in einem Kaufhaus oder auf einer belebten Straßenkreuzung zu befinden. Die Schau wurde ein Erfolg und tourte durch zahlreiche Städte. Seitdem ist Rudolph der Dunkelheit treu geblieben. 2001 eröffnete er in Köln die „unsichtbar“ – ein lichtloses Restaurant, in dem die Gäste von blinden Kellnern bedient werden. „Die Faszination an diesem Thema liegt für mich darin, dass man sich in eine Welt begibt, in der man sich selbst und seine Wahrnehmung neu sortieren muss“, sagt Rudolph. 40 Prozent der Blindwalk-Besucher kommen aus dem Umland, ihr Alter reicht von ganz jungen Menschen bis hin zu Rentnern.
Die Menschen, die heute außer mir am „Blindwalk“ teilnehmen, sind allesamt zu zweit. Sie kommen aus Dinslaken, wie Sabine Neunherz (56) und Ernst Busch (61), sind frisch von Lille in Frankreich nach Köln umgezogen, wie Claudia Henning (30) und Daniel Piel (29), oder sie leben in Ehrenfeld und in der Südstadt, so wie Hannah (22) und Tobi (28). Frauen, falls der Rückschluss zulässig ist, sind offener für Experimente als Männer: Jeweils sie hat ihm die Führung zum Geburtstag geschenkt. Als Blindgänger muss man sich darauf einlassen, zu vertrauen – und darauf, das Unerwartete zu erleben. Berliner in der Auslage einer Bäckerei, die noch nie so intensiv geduftet haben. Füße, die plötzlich „sehen“ lernen, weil sie unter den Sohlen Gummi, Gras oder Beton erkennen können. Hände, die dem nacheifern, indem sie am Römisch-Germanischen Museum über die mal körnigen, mal schartigen oder glatten Oberflächen von römischen Sarkophagen, Meilensteinen oder Säulen fahren. Marmor? Basalt? Oder Granit? Ohren, die ein vielsprachiges Gewirr von Stimmen auffangen, das Klackern von Rollkoffern auf Beton, das Ein- und Abfahren von Zügen auf dem Hauptbahnhof und immer wieder den beruhigenden Johannes Geyer. Der 35-Jährige ist Neu-Kölner aus Lünen und im wirklichen Leben Stadtplaner. Was seine Erklärungen nur umso interessanter macht.
Ist das „Ringelpiez mit Anfassen“?
Mitunter ernten wir auch Spott. „Ringelpiez mit Anfassen?“ mutmaßt eine Junggesellinnentruppe, ehe sich die Anführerin unseren Führer schnappt, um ihn herzhaft abzuküssen. Was er uns nicht verhehlt. Woher sonst sollten wir’s sonst auch wissen? Beim „Früh“ einem Traditionsbrauhaus in Domnähe, aus dessen Türen ein Duftgemisch aus Sauerbraten, Kartoffelsuppe und säuerlich-herbem Hopfen strömt, stimmen Gäste spontan „Des Wandern ist des Müllers Lust“ an und die Köbesse, die Kellner in den blauen Jacken und Schürzen, fangen frotzelnd an, zu bellen. Wir bellen fröhlich zurück. Bei allem Spaß, den so ein Blindwalk mit sich bringt, steckt auch viel Ernst dahinter. „Wie bei allen Dunkelprojekten wird auch hier Verständnis für Blinde geweckt“, sagt Rudolph, „der Blindwalk will ein Stück weit Schrecken nehmen. Beim Thema Blindheit denken viele: ,Das ist das Schlimmste, was mir passieren könnte, da hat man keine Freude mehr am Leben’.“
Ungefähr zur Halbzeit gibt es ein Picknick, bei dem der Gaumen hart (Tomate) und weich (Croissant), süß (Weintraube) und herzhaft (hart gekochtes Ei), heiß (Früchtetee) und kalt (Orangensaft) unterscheiden kann. Dass wir in zwei Stunden bloß 1200 Meter, rund um den Dom, zurückgelegt haben, kommt mir unglaublich vor. Noch unglaublicher ist dagegen nur meine eigene Dummheit: Beim Mikrofon-Verlieren hätte ich einfach bloß „Halt“ rufen müssen. Oder meinem Vordermann auf die Schulter tippen. Alle hätten sofort gestoppt. Blind vertrauen will gelernt sein.
Der Blindwalk
Jeden Samstag um 15 Uhr und jeden Sonntag um 11 Uhr gibt es den Blindwalk. Treffpunkt: Haupteingang des Museum Ludwig (Heinrich-Böll-Platz) in Köln. Die Tour dauert zwei Stunden und ist geeignet für Teilnehmer ab zwölf Jahren.
Flache Schuhe wählen. Bei Antritt erhält jeder Blindwalker einen Rucksack mit Regenjacke und -hut, einer Picknick-Box, einem Becher und einem Sitzkissen, einen Kopfhörer und einen Empfänger. Ein Ticket (inklusive Picknick) kostet pro Person 35 Euro. Anmeldung: www.blindwalk.de