Essen. Eine Familie, die vom Nachbarn terrorisiert wird, das Versagen des Rechtstaates und ein Fall von Selbstjustiz: Dirk Kurbjuweit, Reporter und Schriftsteller, legt erneut die deutsche Seele bloß - im Roman “Angst“.
Es braucht nicht viel, uns aus dem Tritt zu bringen. Randolph Tiefenthaler ist Architekt, Mitte 40, er lebt mit Ehefrau Rebecca und zwei Kindern in einer schönen Altbauwohnung in Berlin-Lichterfelde. Doch unter den Tiefenthalers, im Souterrain, wohnt Herr Tiberius. Heimkind, Hartz-Empfänger. Erst backt er Kuchen für die Familie, dann schreibt er Rebecca explizite Briefe.Später bezichtigt er die Familie des Missbrauchs an ihren eigenen Kindern.
Aus einer solchen Konstellation könnte ein packender Psychothriller werden. Der neue Roman des Spiegel-Reporters Dirk Kurbjuweit aber, „Angst“, ist mehr. Zum einen beginnt er am Ende, nimmt die Auflösung (scheinbar) vorweg: Tiberius ist tot, erschossen. Tiefenthalers Vater, leidenschaftlicher Sportschütze, sitzt im Gefängnis. Zum anderen geht es nicht um Angst im klassischen Sinne – Panik, Herzklopfen, Schweißausbrüche. Sondern um ein dumpfes Gefühl der Bedrohung, die unser Vertrauen erschüttert: das Vertrauen in jene, die Sorge für uns tragen – bis hin zum Rechtsstaat.
Kurbjuweit erlebte ähnlichen Stalking-Fall in der eigenen Familie
Letzterer versagt grandios, jedenfalls empfinden die Tiefenthalers das so. Die Polizei nimmt Tiberius’ Missbrauchs-Anschuldigungen ernst. Selbst, wenn er im Garten der Familie in die erleuchteten Fenster stiert, sieht sie keinen Handlungsbedarf. Die familiären Bande aber straffen sich durch die Bedrohung von außen, sie ziehen zusammen, was zusammen gehört.
Die Beziehungsstudien sind die Herzstücke des Romans. Randolph und Rebecca: Einst hatten sie sich beim Studium in Bochum kennengelernt, lange Tage und Nächte zum „Gründungsmythos“ ihrer Beziehung gemacht. Zuletzt aber konnte sich Randolph nur mit dem Gedanken an die „Unverbrüchlichkeit“ seiner Ehe trösten – denn liebevoll, gar leidenschaftlich, war sie schon lange nicht mehr. Oder Randolph und sein Vater: Als Kind musste der Sohn mit zum Schießplatz, denn Tiefenthaler Senior war ein Sportschütze, der so viel Geld für Waffen ausgab, dass die Familie sich nur bescheidene Urlaube leisten konnte. Weil der kleine Randolph die Waffen des Vaters so beunruhigend fand, rüstete er sich mit dem Schutzschild des Pazifistentums.
Bis Tiberius in sein Leben trat.
Und wenn wir aus dem Tritt geraten – wie weit gehen wir? Dirk Kurbjuweit hat einen ganz ähnlichen Stalking-Fall in seiner eigenen Familie erlebt. Wenn er nun die Geschichte eines Schusses erzählt (der im realen Leben nie fiel), dann liefert er einmal mehr einen sehr präzisen Report aus deutschem Seelenleben: spannungsgeladen und treffsicher.
Dirk Kurbjuweit: Angst. Rowohlt, 256 Seiten, 18,95 Euro