Essen. In seinem neuen Roman “Das Kind, das nicht fragte“ vermisst Hanns-Josef Ortheil die ganze Welt der Dolci: Ein Ethnologe, der wegen eines Kindheitstraumas nicht gerne von sich selbst erzählt, unternimmt eine Forschungsreise - und lernt einen Menschen kennen, dem er sich öffnen kann.
Die erste Begegnung mit den süßen Verführungen Siziliens bringt den Völkerkundler Benjamin Merz sogleich in klebrige Bedrängnis. Denn als er am Flughafen von Catania ein Präsent der Stewardessen annimmt, eine Orange, da besteht diese ganz aus Marzipan – und schon pappt die Zuckermasse an seinen Fingern.
Diese Anfangsszene in Hanns-Josef Ortheils Roman ist einerseits irreführend. Sind die Dolci, die im Örtchen Mandlica hergestellt werden, doch äußerst leckere Angelegenheiten: Der Geschmack von Amaretti, Cassata und Frutta Martorana liegt dem Leser auf der Zunge, Orangenlikör rinnt durch seine Kehle, seine Nase nimmt den Duft der Orangenhaine auf.
Andererseits nimmt das Bild der berührungsempfindlichen Marzipanmasse ein Thema des Romans vorweg. Denn der verschrobene Ethnologe ist ebenfalls berührungsempfindlich: Einer, der zwar gerne Fragen stellt, aber nicht gerne beantwortet. Seine bisherigen Liebschaften endeten stets dann, wenn die Frauen bemerkten, er habe nichts „von sich“ erzählt.
Benjamin Merz ist das Fragen vergangen, weil die vier älteren Brüder ihn stets niederschrien und drangsalierten. Nur in „Schreib- und Gesprächsstunden“ mit seiner Mutter fand er zu sich.
In der emotionalen Zone
Nun reist er nach Mandlica, um sich der „teilnehmenden Beobachtung“ zu widmen. Merz’ Ziel ist die „psychische Landvermessung“, er will die Beziehungen der Bewohner untereinander aufspüren, die „emotionalen Zonen“ einer Stadt.
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Und gerät dabei, wir ahnen es früh, selbst in diese Zonen. Paula, die Schwester seiner Zimmerwirtin Maria, bringt ihn zum Sprechen. Noch nie traf er einen Menschen, „mit dem ich mich so leicht und mühelos unterhalten konnte“. Bis Merz ihr schließlich das ganze kindliche Trauma schildern kann.
„Das Kind, das nicht fragte“ erzählt eine Geschichte, die von der Autobiografie des Autors geprägt ist: Hanns-Josef Ortheil litt als Kind unter dem Schweigen seiner Mutter – sie trauerte um seine vier älteren Brüder, die in den Kriegs- und Nachkriegsjahren starben.
Dieses persönliche Schicksal ist so berührend, dass die folgende Kritik am Buch schwer fällt. Und doch: Der Erzähler Merz wird dem Leser auf Dauer nervig, weil er sich selbst sehr wichtig nimmt. Es fehlt ihm bei aller Selbstbeobachtung ein Hauch von Distanz. Dies ist der kleine Tropfen Bittermandelöl im ansonsten höchst köstlichen Romangebäck.