Essen. Über 100 Jahre nach seinem Tod erscheint die „Geheime Autobiografie“ Mark Twains. Darin kommt er von Hölzken auf Stöcksken, frei nach dem selbstgewählten Auftrag: „Durchwandre dein Leben, wie du lustig bist; rede nur über das, was dich im Augenblick interessiert“.

Warum schreibt jemand sein Leben auf? Weil er sich selbst wichtig nimmt, natürlich. Weil er vielleicht glaubt, andere Menschen könnten sich wiederfinden, spiegeln, bereichern lassen. Oder weil er Herr der eigenen Geschichte bleiben will, sich ins strahlende Licht rücken möchte – so wie all die Prominenten, die mit ihren anschwellenden Bocksgesängen die letzten Heldengeschichten unserer Tage erzählen.

Käme heute jemand auf die Idee, eine Autobiografie zu schreiben und sie nicht zu veröffentlichen? Kaum. Mark Twain aber, Vater von Huckleberry Finn und Tom Sawyer, hat genau dies getan. Erst nach 100 Jahren, verfügte er im Testament, sollten seine biografischen Notizen zum Buch werden. Twain starb 1910; gerade erschien der erste Teil der auf drei Bände angelegten Edition in deutscher Übersetzung. „Meine geheime Autobiografie“ enthält zwar keine sensationellen Enthüllungen, keine heimliche Geliebte, keinen unveröffentlichten Roman – aber ihre Entstehung, ihre Art ist Sensation genug.

Twain will sein Leben nicht schönfarben

Twain wollte sich nicht besser machen, als er war, keinesfalls wollte er sein Leben schönfärben. Im Gegenteil, schon auf den ersten Seiten macht er sich übers Genre lustig. 1835 kam Twain als Samuel Langhorne Clemens im winzigen Ort Florida, Monroe County zur Welt; er schreibt: „Das Dorf bestand aus hundert Einwohnern, und ich vermehrte die Bevölkerung um 1 Prozent. Das ist mehr, als der beste Mann der Geschichte je für eine Stadt getan hat.“

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Dieser ironische Tonfall, der auch Twains Romane schmückt, ist ein roter Faden; eigentlich der einzige. Und eine Zuflucht. Twain merkte früh, dass er eines seiner Ziele, die Ehrlichkeit, nicht erreichen würde. Er wollte „die schwarze Herz-Wahrheit“ über sich sagen, wollte so offenherzig wie einst Casanova und Rousseau schreiben, deren biografische Schriften er sehr schätzte. Deshalb spreche er „aus dem Grab“, heißt es: „So kann ich frei reden.“ Die selbst auferlegte Sperrfrist bewirkte, dass er freimütig über Zeitgenossen lästerte.

"Durchwandre dein Leben,wie du lustig bist"

Später jedoch erkannte Twain, dass er, so detailliert er auch von seiner Kindheit, von seinen Lesereisen, von Familie und Freunden erzählte, sich selbst doch versteckte: „Man kann seine private Seele nicht offenlegen und sie betrachten. Man schämt sich zu sehr.“

Twains zweites großes Anliegen war das Finden einer Form, in der sich vom Leben überhaupt erzählen ließe. „Die Biographie des Menschen kann nicht geschrieben werden“, schreibt er einmal – in seiner Biografie. Vielmehr: hat er schreiben lassen. Als Twain im Jahr 1906 begann, einer Stenografin zu diktieren, hatte er über 30 Biographie-Versuche abgebrochen. Nun machte er das lockere Erzählen zum Konzept: „Beginne an einem beliebigen Zeitpunkt deines Lebens, durchwandre dein Leben, wie du lustig bist; rede nur über das, was dich im Augenblick interessiert, lass das Thema fallen, sobald dein Interesse zu erlahmen droht; und bring das Gespräch auf die neuere und interessantere Sache, die sich dir inzwischen aufgedrängt hat.“

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In drei Jahren ließ er so über eine halbe Million Wörter zu Papier bringen – und starb nur wenige Monate später. Sein Lebensbericht liest sich so frisch, so heutig, als säße man neben Twain am Tresen. Er plaudert über die Geschwätzigkeit anderer Literaten, erzählt von seiner früh verstorbenen Tochter Susy, kommt von Hölzken auf Stöcksken. Die Sprunghaftigkeit des Textes, die losen Querverweise, die Verweigerung aller Chronologie sind unbedingt modern. Twain war sich bewusst, literarisch einen Sieg errungen zu haben. „Und so habe ich den richtigen Plan gefunden. Er macht meine Arbeit zu einem Vergnügen – zu einem reinen Vergnügen, einem Spiel, einem Zeitvertreib, und das ganz und gar mühelos. Zum ersten Mal in der Geschichte ist jemand auf den richtigen Plan verfallen.“

Ein Plan, der darin bestand, keinen zu haben: typisch Twain.

  • Mark Twain: Meine geheime Autobiographie. Übers. v. Hans-Christian Oeser, Andreas Mahler. Aufbau Verlag, 2 Bde., 1129 S., 49,90 €. E-Book: 29,90 €.
  • Hörbuch-Ausgabe: Gelesen von Harry Rowohlt, gekürzt. Random House Audio, 4 CD, 300 min., 19,99 €.