Essen. .

Mark Twain starb am 21. April 1910. Ein Humorist in Schrift und gesprochenem Wort, Journalist mit einem Hang zur verborgenen wie verbogenen Wahrheit. Er gilt als Begründer des amerikanischen Romans – ein Lotse für folgende Autorengenerationen.

Wenn eine Geschichte lehrt, wie man Wünsche weckt und den Preis für deren Erfüllung hochtreibt, ist es jene von Tom Sawyer vor dem weißen Zaun: Murmeln, tote Ratten, bunte Glasscherben bezahlen die Jungs, um Tom nur einmal den Farbpinsel abnehmen zu dürfen. „Er hatte, ohne es zu wissen, ein wichtiges Gesetz entdeckt... dass nämlich, um das Begehren zu wecken, weiter nichts nötig ist als die Sache schwer erreichbar zu machen”, schreibt Mark Twain. Das Kapitel „Der kluge Anstreicher” ist eines der Schelmenstücke, die Twain in „Tom Sawyer“ (1876) und „Huckleberry Finn“ (1885) erzählte.

Und vielleicht die Lektion seiner allerwichtigsten Lehrmeisterin: Olivia Langdon. Nur so eine Vermutung.

Die Fakten: Mark Twain, am 30. September 1835 geboren als Samuel Langhorne Clemens in Missouri. Aufgewachsen im Städtchen Hannibal am Ufer des Mississippi. Gestorben am 21. April 1910 in Redding, Connecticut. Humorist in Schrift und gesprochenem Wort, Journalist mit einem Hang zur verborgenen wie verbogenen Wahrheit; er gilt als Begründer des amerikanischen Romans – ein Lotse für folgende Autorengenerationen. Als Lotse auf dem Mississippi verdiente er sein erstes Geld, aus der Schiffersprache stammt sein Pseudonym: „Mark Twain” hat zu tun mit der Wassertiefe, die so gerade reicht zum Schippern.

Die hatte er stets.

Twains Karriere: begann 1866 mit einem Reisebericht aus Hawaii, den er für „Daily Union” in Kalifornien verfasste und der nun, zum 100. Todestag, erstmals auf Deutsch vorliegt. Eine Mischung aus erstaunlich vorurteilsfreier Reportage und satirischer Fiktion – den Slang der Seeleute („Auf Achtzehnhundert Fass, alte Teerjacke!”) parodierte Twain, der Sprachbegeisterte, ebenso wie seine Reisebegleiter: „Er hatte ein großes Herz und eine blühende Fantasie und war in der Lage, die absurdesten Fakten zu erfinden, und dann auch noch selbst an sie zu glauben.” So schreibt er über Mr Brown – eine frei erfundene Person.

Twains Leben: begann recht eigentlich mit dem Folgeauftrag. Twain durfte 1867 eine Pilgerschar ins Heilige Land begleiten („Die Arglosen im Ausland”). Der real existierende Mitreisende Charles Langdon zeigte ihm das Bild seiner Schwester Olivia – Twain will sich sogleich in sie verliebt haben. Die Liebesbriefe an „Livy” (ebenfalls erstmals auf Deutsch) zeigen einen stürmischen, hartnäckigen jungen Mann. Livys weißer Zaun ist ihre Jungfräulichkeit, die sie verteidigt gegen all jene, die mit allzu leichter Hand Streichwerkzeuge schwingen wollen (Zoten dieser Art waren Twain nicht fremd!). Vier, fünf Anträge Twains lehnte die Millionärstochter ab, bis endlich ein Verlobter ob des Aufstiegs jubeln darf: „Ich werde mich deiner unschätzbaren Liebe würdig erweisen, Livy. Es ist das reinste & höchste Ziel.”

Seine humorigen Vortragsreisen zögerten die Hochzeit hinaus und bedingten, so Twain, „den schönsten Briefwechsel, an dem ich je beteiligt war”. Dass wir nur die eine Hälfte davon zu lesen bekommen, weil Livys Anworten größtenteils verloren gingen, ist schade. Aber vielleicht auch nicht: Twain beschreibt Livys Briefe als „ernste, philosophische Dissertationen”. Tatsächlich war sie eine strenge Erzieherin ihres Gatten, dennoch schwärmte er: „Sie ist das beste Mädchen & das liebste & das sanfteste & das zarteste & bescheidenste & anspruchsloseste & klügste” – & so weiter!

Trauer um die Tochter

Eine starke Liebe, und stark musste sie sein; die Briefe erzählen von wirtschaftlichem Aufstieg und Fall, von der Gründung und Insolvenz eines Verlags, erzählen von Geburten und Tod. Ein Sohn starb als Kleinkind, eine Tochter, Susy, im Teenager-Alter: „Nun weiß ich, was Leid ist, Liebste”, so Twain 1896 an Livy. Und doch: „Meine Trauer kann mich nicht täuschen. Ich weiß, dass ich sie, wenn sie wieder da wäre, genauso vernachlässigen würde wie früher....” Der Preis, den Künstlertöchter zahlen? Dafür bekamen sie Briefe voller Poesie: „Wenn ihr einen schönen Sonnenuntergang seht, werft eine Decke darüber & haltet ihn fest, bis ich wiederkomme.”

Twains Zynismus im Alter bekümmerte Livy („Hilft es der Welt, wenn man immer nur über sie schimpft?”); seine Zweifel am rechten Glauben aber schien sie zu verstehen. Kurz vor ihrem Tod 1904 sagte sie: „Wenn du verloren bist, will ich mit dir verloren sein.”

Mark Twain überwand zeitlebens Zäune. Auch in unseren Köpfen. Bis heute.