Düsseldorf. . „Zwölf Punkte für Europa“ hat der WDR seinen Prolog zum Eurovision Song Contest (ESC) genannt. Eine fesselnde Dokumentation von Stephen Oliver über die Hintergründe und Zusammenhänge der 55-jährigen Gesangsfest-Geschichte im Fernsehen mit Euro-Visionen.

Zwölf Punkte für einen ausgezeichneten Beitrag haben Filmemacher und WDR verdient. Historisches Material durchleuchtet den Mythos ESC. Eine komprimierte Story ohne Schnörkel. Stars und Sternchen, Produzenten und Protagonisten, Staatsmänner und Berichterstatter kommen zu Wort. In 90 Minuten hören und sehen wir: der Liederwettstreit ist mehr als Unterhaltung; oft auch ein politisches Instrument.

Die Geschichte beginnt in den Zeiten des Kalten Krieges. Russland schießt den ersten Sputnik ins All, der Westen richtet die Antennen für eine andere, spannende Technologie aus. Mit amerikanischen Finanzspritzen wird die Europäische Rundfunk Union (EBU) beauftragt, den Schulterschluss des Westens durch das neue Medium Fernsehen zu manifestieren.

Die EBU bringt einen Clou auf die Mattscheibe: Den ersten Gesangswettbewerb für Westeuropa, der live gesendet wird. Sieben Länder sind bei der Premiere am 24. Mai 1956 dabei. In Lugano (Schweiz) schlägt die Geburtsstunde des Grand Prix de la Chanson. Damals noch eine biedere Fernsehshow in Schwarz-Weiß. Kein Vergleich zur pompösen Party der bunten Neuzeit am 14. Mai 2011. Dazwischen liegen 55 aufregende Jahre. Es geht um ein Europa, verheißt der Film. Vom Konflikt mit Panzern und Waffen zum Wettbewerb mit Pailletten und Songs – die Geschichte Europas: als Eurovision.

Erstaunlich, was sich hinter den Kulissen abgespult hat. Vier punktgleiche Sieger stehen beim 14. Wettstreit 1969 auf der Bühne in Madrid. Bereits da ist der eigentlich immer als unpolitisch deklarierte Grand Prix geprägt von politischen Ereignissen. Österreich boykottiert die Veranstaltung, um dem spanischen Diktator Franco keine Plattform einzuräumen.

Irland legt Rekordserie hin

Von 1992 bis 1994 legen die Iren als Rekordsieger den bislang einzigen Titel-Hattrick hin. Mittendrin in dieser Erfolgsperiode glänzte die zunächst verpönte Kleinstadt Millstreet als perfekter Gastgeber. Niamh Kavanagh besteigt den Thron im Heimspiel für Irland mit „In your eyes“. Bis zum heutigen Tag ist sie eine Heldin der Iren geblieben, erzählt die Siegerin. Allerdings muss die irische Sendeanstalt bei dieser Serie an die Grenze ihrer finanziellen Belastbarkeit gehen. Jede der drei Liveübertragungen kostet Millionen.

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In den 90er Jahren füllt sich das Teilnehmerfeld durch die befriedeten Staaten des Ostblocks. Bosnien-Herzegowina gewann zwar nie den ESC, aber an Sympathien im Kriegskonflikt auf dem Balkan. 1999 widmen sich sämtliche Songstreiter beim Finale des zweiten Festivals in Jerusalem den Opfern des Kosovo-Krieges. Hand in Hand stimmen sie „Hallelujah“ an – das Siegerlied von Gali Atari 1979 in Israel.

Wilder Auftritt im Lederlook

Erster Triumphator aus dem Osten ist 1989 im Jahr des Berliner Mauerfalls die jugoslawische Gruppe „Rock me Riva“. 1990 folgt das Song-Contest-Debüt in Zagreb. Pop-Ikone Russlana revolutioniert 2004 den ESC mit ihrem wilden Auftritt im Lederlook, holt die Siegertrophäe und damit das Festival nach Kiew. Mit unmittelbaren Auswirkungen für die spätere orangene Revolution in der Ukraine. Russlana unterbricht dafür ihre Karriere und zieht ins demokratisch gewählte Parlament ein. Ein Novum in der ESC-Geschichte.

Schon 2002 zieht der Song-Contest-Tross nach Tallinn in Estland und ein Jahr später dank dem Erfolg der Letten auf das Parkett nach Riga. Die Russen inszenieren 2009 ihre bislang einzig Show bombastisch mit einer riesigen LED-Leinwand. Auf der Bühne wächst im Osten wieder zusammen, was über Jahrzehnte nur durch politische Unterdrückung verbunden war. Während der Besatzungszeit in Estland hatte es das Polit-Regime der Sowjets nicht gewagt, Panzer auf das singende Volk rollen zu lassen. So protestierten die Esten aus der Tradition ihres Kulturgutes gegen die russischen Machthaber.

Schwule erstmals in der ersten Reihe

Aber es gibt in den modernen ESC-Zeiten auch ein Forum für soziale Randgruppen. Die Schwulen sitzen 1998 in Birmingham erstmals vorne im Publikum und feiern den Triumph einer transsexuellen Diva: Dana gewinnt für Israel den Song Contest. Die Serbin Marija Šerifović singt sich 2007 als Lesbe in die Herzen der Fans. Wie ein Affront wirken dagegen die Faustschläge ins Gesicht der Schwulen am Rande des Events 2009 durch intolerante Ordnungskräfte in Moskau.

Die maskierten Hardrocker von Lordi sorgen 2006 für den skurillsten Championsauftritt. Sie spalten die finnische Nation so tief, dass es Rufe gibt, der Ministerpräsident möge den Rückruf anordnen. Noch heil ist die Welt 1974 beim legendären Goldrang von ABBA in Brighton. Vergessen war deren Scheitern ein Jahr zuvor bei der schwedischen Vorausscheidung. Mit Waterloo steuert der Grand Prix in eine neue, schillernde Ära. Die Briten von Bucks Fizz allerdings fühlen sich beim Coup von 1981 in Dublin wie singende Teletubbies trostloser Popmusikzeiten. Einer der Frontmänner des Quartetts mag das Stück beim besten Willen heute nicht mehr hören und bringt es nur noch selten über seine Lippen.

„Ein bisschen Frieden“ zu Kriegsbeginn

Und aus deutscher Sicht? Nicole bezeichnet ihren Hit in Harrogate als thematische Punktlandung in politisch frostigen Zeiten zwischen Ost und West. Deutschland diskutierte 1982 über den Nato-Doppelbeschluss. Als Nicole wie ein vom Schlagerhimmel gesandter Engel „Ein bisschen Frieden“ trällerte, brach am gleichen Tag der Krieg auf den Falkland-Inseln mit britischer Beteiligung aus. Besonders stolz sei sie auf die zwölf Punkte aus Israel gewesen, wälzt die jüngste Siegerin aller Zeiten (Nicole war 17) in Erinnerungen.

Nur unsere Lena passt mit ihrer Unbekümmertheit in kein Schema der ESC-Gepflogenheiten. „Wir hatten Latex-Rocker, wir hatten Feuerwerk, wir hatten Männer, die als Krüppel verkleidet waren, wir hatten Akrobaten. Und dann kam diese kleine Deutsche und sang. In einem kleinen Schwarzen und mit lustigem Akzent“, bringt ein Kenner der Szene Lenas Erscheinung und das Sommermärchen von Oslo auf den Punkt. „Germany, twelve points“, lautet es fast pausenlos beim Siegeszug 2010. Wiederholt sich die Geschichte für Lena? Es wäre ein Meilenstein und die Dokumentation erst dann richtig rund. Den Titel verteidigt hat noch kein Interpret.