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Lena Meyer-Landrut wird beim Eurovision Song Contest in diesem Jahr nicht gewinnen, davon ist Musikprofessor Peter von Wienhardt überzeugt. Paradox: Ausgerechnet der Hype um Lena soll die Qualität der Konkurrenz auffällig gesteigert haben.
Wie beurteilen Sie die Chancen von Lena Meyer-Landrut? Belegt sie wieder Platz 1?
Peter von Wienhardt: Nein. Ich hab mir im Vorfeld die Videos der Teilnehmer angeschaut, und die Konkurrenz ist schon ziemlich gut. Aber natürlich ist ein Sieg nicht gänzlich ausgeschlossen, da es letztendlich auf den Live-Auftritt ankommt.
Auf welchem Platz sehen Sie Lena?
von Wienhardt: Wenn Sie zwischen Platz sechs und zehn landet, ist das schon ein sehr großer Erfolg.
Lena geht für Deutschland mit „Taken by a Stranger“ ins Rennen. Was ist Ihre Meinung zu dem Titel?
von Wienhardt: Das Lied ist mit Blick auf die Zielgruppe beim Eurovision Song Contest ziemlich gut. Kompositorisch hat es Charakter, und es ist sehr loungig. Von dieser Art gibt es im Contest nur zwei andere Lieder, daher ist es nicht das schlechteste.
Wie gut passt das Lied zu Lena?
von Wienhardt: Musikalisch betrachtet ist es ein guter Titel. Mit dem Lied kann Lena ihre stimmlichen Defizite im Vergleich zu den anderen Kandidaten gut kaschieren.
Wie schätzen Sie die Chancen der Mitbewerber ein? Wer sind Ihre Favoriten?
von Wienhardt: Musikalisch und künstlerisch ist, soweit ich das nach der Durchsicht der Videos sagen kann, der Beitrag aus Belgien (Witloof Bay mit With Love Baby) sicherlich der beste. Aber das ist eine A-capella-Nummer, und die wird beim Song Contest keine Chance haben, einfach weil sie nicht mehrheitsfähig ist.
Es gibt aber einige durchaus interessante Titel, die zwar nicht unbedingt von der musikalischen Qualität her die besten sind, aber bei den Zuschauern bestimmt gut ankommen werden.
• Der Song aus Irland (Jedward mit Lipstick) ist ein absoluter Up-to-Date-Titel. Sehr massentauglich und mit schrillen Protagonisten, die auch singen können – in allen Belangen ein super Stück. Das ist auf jeden Fall ein Tipp von mir.
• Der Beitrag aus Kroatien (Celebrate von Daria Kinzer) ist ein Party-Song, gut zum Tanzen, sehr peitschender Beat. Es ist zwar eine musikalisch eher schwache Nummer, aber zielgruppenorientiert.
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• Das Lied aus Dänemark (A Friend In London mit New Tomorrow) hat einen sehr ambitionierten Text. Kompositorisch ist die Nummer äußerst schwach, hat aber ein sehr gutes Sounddesign und sympathische Protagonisten.
• Der Beitrag aus Georgien (Eldrine mit One More Day) ist von Nirvana inspiriert, und im Osten könnte das Lied ein sehr großer Hit werden.
• Der Song aus Norwegen (Haba Haba von Stella Mwangi) ist ein wunderschöner Titel. Weniger europäisch, sondern eher afrikanisch im Stil von „Hakuna Matata“. Das Lied könnte auch aus „König der Löwen“ stammen. Sehr unterhaltsam.
• Russland (Alexey Vorobyov mit Get You) schickt einen hübschen Jungen mit guter Stimme ins Rennen. Der Beitrag ist eine Party-Nummer.
• Der Beitrag aus Serbien (Nina mit Caroban) ist Tanzschulmusik, aber ich könnte mir vom Sound her fast vorstellen, dass Stefan Raab da seine Finger drin hatte: ein bisschen 60er, ein bisschen Soul, ein bisschen Jazz. Eine sehr eingängige Nummer.
• Das Lied aus Slowenien (Maja Keuc mit No One) hat einen sehr schweren Beat; das kommt in Ost-Europa sicher gut an.
• Der Beitrag aus England war im vergangenen Jahr so peinlich, dass sie sich dieses Jahr Mühe gegeben haben (Blue mit I Can): eine Boygroup-Nummer, die man richtig gut mitsingen kann.
Wer wird eher Schlusslicht?
von Wienhardt: Das ist in diesem Jahr sehr klar: Das Lied aus Portugal (Homens da Luta mit Luta É Alegría) geht gar nicht und klingt eher nach Volkshochschul-Kurs „Singen“.
• Der Beitrag aus Weißrussland (Anastasiya Vinnikova mit I Love Belarus) hat einen sehr peinlichen Text über Heimatliebe. Das Lied hat einen nationalistischen Text, der eigentlich verboten werden müsste.
• Der Song aus San Marino (Senit mit Stand By) ist eine nette Popnummer, aber extrem belanglos.
• Der Beitrag aus Israel (Dana International mit Ding Dong) ist auch kein Favorit von mir. Der Text hat keinen Sinn, und der Beat ist verbraucht. Eine dümmliche Nummer, wie aus den 80er Jahren übrig geblieben.
Wie schätzen Sie die Qualität des Teilnehmerfelds insgesamt ein – im Vergleich zu den Vorjahren?
von Wienhardt: Eindeutig um ein vielfaches besser. Sicherlich haben einige Länder nach dem Erfolg im vergangenen Jahr gesehen, dass sie hier eine gute Marketingchance bekommen.
Wie ernst darf man den ESC als musikalischen Wettbewerb überhaupt nehmen?
von Wienhardt: Der Song Contest hatte sicherlich immer einen Trash-Faktor, denken wir an Guildo Horn und seine Nussecken. Aber diese Nummern sind deutlich weniger geworden. Durch den Hype um Lena haben die Produzenten gesehen, dass man mit dem Contest sehr viel Geld verdienen kann. Dadurch hat der Wettbewerb deutlich an Ernsthaftigkeit gewonnen.
Prof. Dr. Peter von Wienhardt ist Professor für Klavier und Crossover an der Musikhochschule der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster