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Altmeister Philip Roth streut in seinem neuen Roman „Nemesis“ den Virus des Zweifels – an Mensch und Gott. Sein Buch beschreibt den Ausbruch einer Polio-Epidemie im Jahr 1944.
Im Juni 1944 ist Newark, New Jersey, eine glühende Hölle. Der Poliovirus tötet Kinder und Jugendliche; viele Überlebende werden für immer Krüppel bleiben. Der junge Sportlehrer Bucky Cantor betreut jene Jungs, deren Familien sich Sommerferien nicht leisten können, auf einem vor Hitze flirrenden Sportplatz. Hilflos muss er zusehen, wie täglich weniger Kinder kommen. In kunstvollen Halbsätzen fängt der 77-jährige Altmeister Roth in seinem neuen Roman „Nemesis“ jene drückende Stimmung ein, die in seiner Kindheit und Jugend noch gegenwärtig war: 1933 in Newark geboren, wäre er zur Zeit seines Romans vielleicht einer jener Schüler auf Cantors Sportplatz gewesen.
Nun kam 1955 der erste Impfstoff gegen Polio, die „Kinderlähmung“, auf den Markt, heute gilt der Virus als nahezu ausgerottet. Doch löst sich die historische Anmutung der ersten Seiten gleichnishaft auf. Denn die Panik vor dem unsichtbaren Virus, der grassierende Aberglaube, die Hilflosigkeit der Behörden, all dies ist ja Literatur gewordene Zukunftspanik. Und lotet, in tiefer Verbeugung vor Camus’ „Pest“ oder auch Saramagos „Stadt der Blinden“, die menschliche Natur im Angesicht der eigenen Sterblichkeit aus.
Roths versuchsweiser Held ist Bucky Cantor. Der 23-Jährige ist „ein junger Mann mit Überzeugungen, entspannt, freundlich, fair, taktvoll, stark, umsichtig, belastbar, sanft und ebenso Kamerad wie Anführer“. Seine Mutter starb bei seiner Geburt, sein Vater war ein Spieler. Von den Großeltern wird er dazu erzogen, „sich vor nichts zu fürchten, sich jederzeit als Mann wie als Jude zu behaupten.“ Seine Erscheinung ist kompakt, sein Gesicht fordert Roths kraftvolle Poesie heraus: „Es war das robuste, wie aus Eisen gegossene und auffallend kühne Gesicht eines starken jungen Mannes, auf den Verlass war.“
Aufgrund seiner Kurzsichtigkeit ist er einer der wenigen jungen Amerikaner, die nicht in den Krieg ziehen; er empfindet das als Makel.
Das Scheitern an den eigenen Idealen
Wo will Roth hin mit diesem von Idealen Geleiteten? Bucky Cantor fällt tief. Er verlässt Newarks jüdisches Viertel Weequahic, das am stärksten von der Krankheit gebeutelt ist, und nimmt eine Stelle in einem Sommercamp in Pennsylvania an: Dort arbeitet seine Verlobte Marcia. Dass er ihrem Drängen nachgibt, überrascht ihn ja selbst. Er hat gegen seine Überzeugung gehandelt. Er ist desertiert! Die Luft ist rein im „Camp Indian Hill“, im doppelten und dreifachen Sinne, jedoch: „Je glücklicher er war, desto demütigender war es.“ Dann bricht nicht nur bei ihm selbst, sondern auch bei Feriencamp-Kindern die Krankheit aus. Cantor glaubt, der Überträger gewesen zu sein. „Das Wüten der Epidemie ... schien ihm wie ein großes, von ihm selbst verübtes Verbrechen.“
Er bleibt, körperlich wie seelisch, fürs Leben gezeichnet; das Glück mit Marcia versagt er sich. Ein letztes Aufbäumen seines Heldentums besteht darin, die Geliebte nicht an einen Krüppel zu binden. Um sich selbst zu strafen für jene Sekunde der Schwäche, die Nemesis auf den Plan rief: Göttin der Rache und der gerechten Empörung.
Nicht zufällig heißt „Empörung“ einer jener vier Kurzromane, die Roth zu einem Zyklus zusammenbindet. „Jedermann“, „Empörung“, „Die Demütigung“ und eben „Nemesis“ untersuchen, im Kern, was ein Leben bestimmt (Gott, Zufall, der Mensch selbst) und wie ein kurzer Moment Träume scheitern lassen kann. Sie sind, wie Nobelpreisträger J.M. Coetzee in einer Rezension schreibt, im Grundton „melancholisch“; dass er sie als „geringere Ergänzungen zum Roth-Kanon“ bewertet, erscheint allerdings doch etwas hart. Denn die Kurz-Romane sind Alterswerke im besseren Sinne: erforschende Rückschauen, Spiegel gelebten Lebens, Fragen nach dem Danach. Drei von ihnen sind quasi aus dem Jenseits erzählt. Dazu zählt Bucky Cantors Geschichte.
Denn Roth ist ja ein alter Fuchs. Von Cantors Schuldgefühlen weiß er sich mit literarischen Mitteln zu distanzieren, ohne Stellung zu beziehen. Lässt er doch bis zum Ende offen, wer hier eigentlich von „Mr. Cantors“ Tragödie berichtet: Es ist der ehemalige Schüler Arnie Mesnikoff, der Cantor in den Siebziger Jahren wiedertrifft. Er erzählt nun Cantors Story. Aber können wir ihm trauen? Mesnikoff ist der andere Pol im Spannungsfeld religiöser Überzeugungen: ein Atheist, der Cantors Suche nach Schuld als die „Hybris eines phantastischen, kindischen Gottesbegriffs“ empfindet und die Epidemie „sinnlos, zufällig, absurd und tragisch“ nennt.
Wie kann Gott es zulassen, dass Kinder sterben? Und wenn es nicht Gott war, sondern zufällige Laune der Natur, ist er noch der „Allmächtige“? Mit geübter Hand skizziert Roth die großen Fragen – und denkt schreibend darüber nach, wie ein zutiefst gläubiger Mensch seinen Glauben an Gott wohl verteidigen wird. Wie er Schuld auf sich nimmt, um Machtlosigkeit (die Gottes, aber eher noch die eigene) nicht eingestehen zu müssen. Das kleine Buch des Großmeisters Roth durchmisst den Raum zwischen Mensch und Himmel – sprachmächtig, nachdenklich und zutiefst berührend.