Oberhausen. .

Peter Carp zeigt mit Dennis Kellys „Waisen“ und Tschechows „Drei Schwestern“ zwei starke Inszenierungen am Theater Oberhausen. „Waisen“ setzt Carp beklemmend düster in Szene, die „Drei Schwestern“ siedelt er zeitlos an.

Es hätte für Helen und Danny ein so schön romantisches Abendessen daheim werden können. Aber dann steht da plötzlich Helens Bruder Liam im Zimmer, trägt ein beängstigend blutiges T-Shirt und sucht Hilfe bei seinen nächsten Verwandten. Die Stimmung ist beim Teufel, denn da muss draußen etwas vorgefallen sein, von dessen Ausmaß sich noch niemand eine Vorstellung machen kann. Nur nimmt niemand im Raum Liam den guten Samariter ab, der einem niedergestochenen Fremden zur Hilfe geeilt sein will. Liam ist eher der Tätertyp.

„Waisen“: Manja Kuhl, Henry Meyer als Ehepaar. Foto: Beatrice Klein
„Waisen“: Manja Kuhl, Henry Meyer als Ehepaar. Foto: Beatrice Klein © WAZ

„Waisen“ heißt das beunruhigende Stück des britischen Autors Dennis Kelly, das Intendant Peter Carp jetzt am Oberhausener Theater beklemmend düster in Szene gesetzt hat. Eine Arbeit, die der Regisseur ursprünglich mit einem zweiten Kelly-Stück („Liebe und Geld“) zu einem Doppelabend ausbauen wollte. Doch statt für die Geschichte mit dem kühlen Rechner, der seine Ehefrau aus rein wirtschaftlichen Gründen umbringt, hat Carp sich nun für Tschechows „Drei Schwestern“ entschieden. So ist das Ganze zwar nicht mehr thematisch verflochten, folgt da nicht mehr ein theatralischer Faustschlag auf den nächsten. Dafür aber sind es trotz allem zwei starke Inszenierungen geworden.

In „Waisen“ dauert es ein wenig, bis Henry Meyer und Manja Kuhl zu ihren Figuren finden, bis aus dem bloßen Aufsagen kurzer Dialoge endlich wahre Gefühle mitschwingen. Dafür aber ist Martin Hohner als blutiger Liam von Anfang an ein Ereignis. Wie er da aus einem anfangs devoten Bittsteller allmählich einen beinharten Rassisten und brutalen Folterer erwachsen lässt, das folgt nicht den Gesetzen schauriger Horror-Trips, das nährt vielmehr die Erkenntnis, dass noch in jedem Menschen ein Peiniger stecken kann – Schwager Henry wird das auch noch erkennen. So wie Liam sich hier schließlich Wut, Hass und Sozialneid von der Seele schreit, macht er nur deutlich, wie brüchig jede zivilisatorische Norm wird, wenn an Urängste und Urinstinkte gerührt wird. Kellys Stücke zeigen ein mieses Weltenlabyrinth, aus dem es kein Entkommen gibt.

Drei Schwestern

„Wat wor dat fröher en superjeile Zick“, dröhnen tags darauf De Höhner aus den Lautsprechern, und die „Drei Schwestern“ aus Tschechows gleichnamigem Stück tanzen wild dazu. Früher, das waren die unbeschwerten Tage in Moskau. Heute versauern die drei Töchter eines kürzlich verstorbenen Offiziers in der Provinz, haben aber ein Ziel nie aus den Augen verloren: Es muss ein Zurück geben, „nach Moskau“. Da sie sich aber in einem Tschechow-Drama bewegen, werden Umstände und Entschlusslosigkeit diesen Plan zu verhindern wissen.

Carp hat zuletzt mit dem „Kirschgarten“ versucht, das typisch Russische in Tschechows Dramen zu eliminieren, indem er Lopachin als Unternehmer amerikanischen Zuschnitts präsentierte. Auch jetzt versucht er das Stück aus der Ära der Jahrhundertwende herauszulösen und es zeitlos anzusiedeln. Was hier gut funktioniert, weil all das Reden über Lebensentwürfe und die Träume vom Neuanfang eine bleibende Allgemeingültigkeit besitzen.

Man trauert der Jugend nach und hockt auf aufgereihten Stühlen wie im Warteraum für Transferreisende. Die Gegenwart ist nur dazu gut, um zu leiden – am Beruf, an der Unterforderung, an den Ehepartnern.

Keinen Moment hat man bei Carp den Eindruck, hier plätschere etwas Tschechow-like vor sich hin. Das hervorragende Ensemble unterstützt das nach Kräften, angefangen bei den Schwestern: Anja Schweitzers Lehrerin Olga scheint allmählich zwischen den Schulmauern zu versickern, Manja Kuhls Mascha kann ganz wunderbar die Qual des Lebens veranschaulichen, Angela Falkenhans Irina spürt man zart schon die Verzweiflung an, ein Leben mit Kompromissen führen zu müssen.

Tschechow lässt seine Figuren von der Arbeit schwärmen, als sei das ein Allheilmittel gegen alles Übel des Daseins. Der Regisseur hat dafür nur Ironie übrig: Bei ihm enden die Schwestern schließlich im Call-Center der geschäftstüchtigen Schwägerin Natalia (Nora Buzalka). Wem das schon zu weit geht, der muss sich wappnen: Am Ende wirft auch noch ein Karnevalsprinz Kamelle ins Publikum. Es gibt Ideen, die sollte man rechtzeitig beerdigen.