Essen. Der Roman um den pensionierten irischen Detective Sergeant Tom Kettle beginnt mit einem grotesken Monodrama. Und dann wird‘s bitter ernst.

Der Steidl Verlag in Göttingens Düsterer Straße ist eine weltweit begehrte Adresse, wenn es um Kunst-Drucke geht. Das heißt um künstlerische Fotos, um Kunst- und Fotobücher, oft in unmittelbarer Koproduktion mit den Künstlern entstanden, um hochwertige Magazine etwa für das internationalen Modegeschäft und dergleichen mehr.

Und daneben gibt es dort ein schlankes Literaturprogramm, dessen Anfänge etwa mit dem Gesamtwerk von Günter Grass sich der persönlichen Beziehung des Druckers Gerhard Steidl zum Autor und Grafiker Grass verdanken. Aktuell umfasst es einzelne Titel von deutschsprachigen Debütanten und eine relativ breite Auswahl von Übersetzungen, vor allem aus dem Englischen. Hier dürfen die Lektorin Claudia Glenewinkel, einst Studentin in Essen, und der preisgekrönte Übersetzer Hans-Christian Oeser, ehemals Lektor in Dublin, auch ihre Vorliebe für die irische Gegenwartsliteratur pflegen und etwa die großartige Claire Keegan verlegen.

Der Göttinger Steidl Verlag hat schon sieben Romane von Sebastian Barry veröffentlicht

Weniger Resonanz als sie hat bei uns bisher der Erzähler und Dramatiker Sebastian Barry gefunden, dessen Romane (immerhin schon sieben bei Steidl) oft irische und amerikanische Geschichte verflechten. Der achte spielt nun in der irischen Gegenwart, ist als Krimi mit moralischem Tiefgang angelegt und hat schon die Krimibestenliste angeführt. Er beginnt allerdings als eine Art Monodrama, quasi Beckett-light, Barry ist schließlich auch Stückeschreiber.

Detective Sergeant Tom Kettle ist nach vierzig verdienstvollen Dienstjahren vorzeitig im Ruhestand und will in seiner kleinen Einliegerwohnung nahe Dublin einfach nur die Aussicht auf die Irische See genießen. Aber schon fällt ein Schatten auf die Idylle. Das ist wörtlich zu nehmen: Durch die Glastür nimmt Tom zwei stattliche Figuren wahr, die sich als jüngere Kollegen entpuppen. Zwei Kapitel lang zeigt Barry nun, dass er auch die Groteske beherrscht.

Sebastian Barry mit anrührender Liebesgeschichte und dem „geistlichen Terrorismus“ des Missbrauchs

Erst dann sieht sich Tom mit einer zweifachen Herausforderung konfrontiert: Er soll sich zu einem längst vergangenen Fall äußern, mit dem er befasst war und dessen alte Ermittlungsberichte er nun in Händen hält. Und das macht ihn hilflos, er wünschte seine Tochter herbei. „Aber Winnie war tot, Joseph in Albuqerque ermordet. Seine Frau June tot, tot.“ Die Konfrontation mit der Vergangenheit, die sich jetzt wieder auftut, droht ihn zu überwältigen. Wiederkehr des Verdrängten wäre das Schlagwort: „Old God‘s Time“ lautet der Originaltitel: Was vor aller Zeit geschah.

Neben dem Verlust der beiden erwachsenen Kinder steht im Rückblick die anrührende Liebesgeschichte zwischen dem nicht mehr ganz jungen Tom und der jüngeren June aus dem Schnellimbiss, die dann ein gewaltsames Ende nimmt. Denn hinter der Liebe lauert immer noch das von beiden einst erlittene Leid. Damit öffnet der Roman retrospektiv und ausdrücklich den Blick auf den „geistlichen Terrorismus der katholischen Kirche“ in Irland (so der Historiker E.P. Thompson), der im massenhaften Kindesmissbrauch seinen abscheulichsten Ausdruck fand.

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Dass Barry seinem erschütterten Helden noch eine Art symbolischer Revanche spendiert, kann man so oder so bewerten; in jedem Fall trägt es zum Nachdenke-Potenzial dieses ebenso schlanken wie lesenswerten Romans bei.

Sebastian Barry: Jenseits aller Zeit. Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, 278 S., 20 €