An Rhein und Ruhr. Schweigen ist Gold: Der irische Film „The Quiet Girl“ erzählt anrührend und warmherzig von einem vernachlässigten Kind
Schon die Anfangssequenz erzählt die Geschichte: Ein junges Mädchen versteckt sich im hohen Gras, will augenscheinlich verschwinden. Denn Cáil, neun Jahre alt, ist ohnehin übrig. Die älteren Schwestern sind laut genug, die Mutter überforderdert und schwanger, der Vater ein Trinker und Taugenichts – also erfährt Cáil die womöglich schlimmste Form der Misshandlung: die Missachtung.
Nun aber, in diesem Sommer und angesichts der bevorstehenden Geburt des vierten Kindes, soll sie aus dem Weg. Vater bringt sie rauchend in seinem Sportwagen zu in jeder Hinsicht entfernten Verwandten. Während die Cousine der Mutter Eibhlín (Carrie Crowley) immerhin freundlich zu Cáil ist, ignoriert Farmer Seán (Andrew Bennett) die Neunjährige zunächst. Und die – das stille Mädchen – macht ihnen das auch sehr leicht.
Große Gefühle ohne Tränendrüse
Wie Regisseur Colm Bairéad nun das sich entwickelnde Beziehungsgeflecht der Ersatzeltern und ihrem Findelkind entwickelt und wie nuanciert das Ensemble die Erfahrungen und Erlebnisse der jungen Cáil in Szene setzen, ist überaus anrührend, ohne dass je auf die Tränendrüse gedrückt würde. Man leidet in jeder Szene mit und freut sich – im Wortsinne – über jeden Lichtstrahl, der da in das Leben der jungen Cáil fällt.
Die Bilder dazu aus dem Irland der frühen 80er Jahre sind großartig und stimmig: Wie ihr Vater beim Wegfahren das geschenkte Bündel Rhabarber wie ein Baby im Arm hält und dann unbeholfen einige Stangen fallen lässt. Wie ihr Gastvater Seán, nachdem er sie am Tage angeraunzt hat, weil sie weglief, ihr ohne Worte ein Macron auf den Küchentisch legt, weil er für eine Entschuldigung keine Worte, aber diese Geste findet – das ist alles so sehr auf den Punkt inszeniert, dass der Film sehr zurecht Irlands Beitrag zum Oscar 2022 war und nun endlich – mit einem Jahr Verzögerung – zu uns in die Kinos kommt.
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Dabei ist der Film auch durchaus spannend. Die so freundlichen Ersatzeltern bergen ein Geheimnis, das Cáil erst nach und nach entschlüsselt. Dabei hatte die liebevolle, immer etwas steife Gastmutter Eiblhin doch noch betont, es gebe keine Geheimnisse in ihrem Haus, damit es keine Schamgefühle gebe…
Nach und nach taut auch Seán auf, nimmt jeden Morgen die Zeit, die Cáil für den Sprint zum Briefkasten und zurück braucht und nimmt sie mit ans Meer, als sie das dunkle Geheimnis ihrer Gasteltern entschlüsselt hat. Gemeinsam blicken die beiden aufs Meer, schweigend. „Man darf nie eine Gelegenheit verstreichen lassen, zu schweigen“, sagt er und mehr muss er nicht sagen.
Eine knappe Erzählung als reichhaltige Grundlage
Es könnte also vielleicht alles gut sein, zumindest manches besser werden, wenn die Sommerferien für Cáil nicht irgendwann enden würden – und damit auch der Film, der auf der Erzählung „Das dritte Licht“ von Claire Keegan beruht. Die knappe Erzählung, die im Original „Foster“ heißt zählt die „Times“ zu den 50 wichtigsten Romanen des 21. Jahrhunderts. Mag sein. Sicher aber ist: Bairéad und seine großartigen Akteure haben aus der kleinen Geschichte einen großen Film gemacht, der sehr zurecht 2022 für den Auslandsoscar nominiert war.
Hier ist der Film in der Region zu sehen: Lichtburg Oberhausen, Filmstudio Glückauf Essen, Filmstudio Bambi, Düsseldorf, Schauburg Dortmund, Kino Endstation Bochum, Casablance Bochum.