Essen.

Mädchen verwandeln sich in schöne Lausbuben, Jungen aber umgekehrt nicht in sensible Backfische: So ließe sich zusammenfassen, wie sich die Geschlechterrollen in der Kinder- und Jugendliteratur entwickelt haben.

Übrigens prügelst du dich wie ein Mädchen“, zischt er und läuft mit wütenden Schritten auf den Campingplatz. „Ich bin ein Mädchen!“, brüllt ihm Tonje empört hinterher.

(Maria Parr: Sommersprossen auf den Knien, Verlag Dressler, Preisträger Luchs 2010)

Pippi Langstrumpf hat viele Nachahmer gefunden. Mädchen beweisen sich heute als Piratin oder Detektivin, sie sind frech und taff. Sie hatten zwar auch früher schon in den Geschichten für junge Leserinnen solche Charakterzüge, aber die waren nur dazu da, um sie zu überwinden, um am Ende wie Trotzkopf oder Nesthäkchen doch noch eine wohlerzogene, sich zurücknehmende Dame zu werden.


Die Backfischliteratur

Das war die Mädchen- oder Backfischliteratur, die jahrzehntelang den Leserinnen den Platz als Ehe- und Hausfrau in der Gesellschaft zuwies. Doch mit der Frauenbewegung änderte sich die Literatur für Mädchen. In den 70ern bis Anfang der 90er-Jahre bekamen die Bücher aggressive Titel: „Lady Punk“, „Blöde Kuh“, „Aber ich werde alles anders machen“. Dazu Annette Kliewer, Privatdozentin für Literaturdidaktik an der Uni Koblenz-Landau: „Die traditionelle Mutter wurde zur Negativfigur.“

Doch seit einigen Jahren nimmt diese Radikalität wieder ab. „Heute müssen nicht alle Mädchen Automechaniker werden“, sagt Kliewer, die am Gymnasium unterrichtet. In der konventionellen Mädchenliteratur, die parallel zur emanzipatorischen bis heute angeboten wird, geben sich die Mädchen zwar selbstbewusster, aber ihre Identität hängt weiterhin von einer Frage ab, gleichgültig, ob sie hinter einem Kerl oder einem Vampir her sind: Krieg ich ihn oder krieg ich ihn nicht?

Von einer Neuauflage der traditionellen Rollenbilder spricht Sabine Berthold. Die Professorin für Kinder- und Jugendliteraturwissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin hat die aktuellen „Shoppingromane“ analysiert, die von Konsum und Körperinszenierung handeln: „In Shoppingromanen werden konventionelle Weiblichkeitsbilder wiederbelebt, werden klassische Schönheitsideale gefeiert.“ Große Klappe ja, aber schön soll sie sein.

Geschichten von Prinzessinnen in Rosa

Auch sehr junge Leserinnen schwärmen eben nicht nur für die Pippi Langstrumpfs dieser Welt. Entzückt verfolgen sie Geschichten von Lillifeen und anderen Prinzessinnen in Rosa.

Und die Jungen? Die lesen nach wie vor nicht so viel wie die Mädchen. Und wenn Jungen lesen, so haben Untersuchungen ergeben, dann muss der Held männlich sein. Mädchen sind da offener, was das Geschlecht der Hauptperson angeht. Sie lesen auch problemorientierte, emotionale Bücher über Missbrauch oder Essstörungen. Mit solch ernsteren Büchern können Jungen nicht viel anfangen: In den 90ern versuchten Autoren „neue Jungen“ zu etablieren, die sensibel und gefühlsbetont sind. Doch diese Bücher, wie etwa „Nennen wir ihn Anna“, fanden die Jungen „abstoßend“, weiß Kinderbuchexpertin Kliewer.

Nach 2000 kam die Wende: Wenn Jungen nun in Büchern schwach sind, wird das von Freunden ausgeglichen oder weggelacht. Mit Humor wird Schwäche für Jungen akzeptabel, erklärt Kliewer. Und im Zuge der Männerbewegung dürfen auch Jungen in den Romanen wieder stark sein.

Archaische Bilder von Männlichkeit

Literaturwissenschaftlerin Berthold hat sich daraufhin Jugendbücher zum Thema „Extremsport“ angeschaut, die „nahezu archaische Bilder von Männlichkeit“ beschwören. „Nicht der makellose Körper, sondern der malträtierte Körper, der körperliche Torturen überstanden hat, wird hier dargestellt.“ Jungen wollen sich mit anderen messen, Bewährungsproben bestehen, sich vom anderen Geschlecht abgrenzen.

Das erklärt vielleicht auch den großen Erfolg von Buchreihen wie „Die wilden Fußballkerle“ von Joachim Masannek. Sie sind eigentlich trivial geschrieben, aber Jungen dürfen dort Rabauken sein. Mädchen kommen in Masanneks Büchern nur am Rande vor. Wie auch in seiner neuen Reihe „Honky Tonk Pirates“. Da ist Honky Tonk Hannah, die zwar noch abgebrühter ist als die abgebrühte Pippi Langstrumpf, dafür aber schön: „Hannah stand da wie ein echter Pirat, wie der beste Pirat, den es auf der Welt gibt, und die Stiefel, die sie trug, waren wirklich fantastisch.“