Essen. Schon 1924 war die „Schwarzwaldklinik“ mit intellektuellen Höhenflügen ein Bestseller - und Thomas Manns Eintritt in die Weltliteratur.
Es war schon ein Wagnis, dass der Verleger Samuel Fischer im November 1924 einging, als er den neuen, gut 1000 Seiten starken Roman von Thomas Mann in zwei Bänden erschienen ließ. Fast ein Vierteljahrhundert zuvor hatten sich die „Buddenbrooks“, ebenfalls zunächst in zwei Bänden erschienen, nur schleppend verkauft, zumal der Preis, der nach heutigen Maßstäben bei über 100 Euro lag, mindestens so wuchtig war wie das Buch. Aber dieser „Zauberberg“, an dem Thomas Mann fünf Jahre gearbeitet hatte, verkaufte sich wie geschnitten Brot.
Das wird nicht zuletzt an der Schlüsselloch-Perspektive dieses ersten großen Krankenhaus-Romans gelegen haben, eine Art Uropa von „Emergency Room“ und „Schwarzwaldklinik“. Komm doch mit auf den Zauberberg: Er spielt hoch oben im Schweizer Nobel-Kurort Davos, in der Welt der Reichen und mehr oder minder Schönen, und von Geldsorgen ist hier zu allerletzt die Rede. Das muss den Menschen der Weimarer Republik, die gerade mit der großen Inflation nach der Ruhrbesetzung eine schwindelerregende Geldentwertung erlitten hatten, schon beim Lesen wie ein doppelter Urlaub vorgekommen sein.
Und dann erst die Figuren! Gestalten! Dank ihrer Marotten und Manieren, die Thomas Mann (1875-1955) hingebungsvoll ausmalt, hat man sie quasipraktisch in voller Lebensgröße vor Augen. Den so grobschlächtigen wie geschäftstüchtigen Klinikleiter Hofrat Behrens. Die schöne, aber innerlich so morsche Madame Chauchat mit den kirgisischen Augen, in die sich nicht nur der Romanheld Hans Castorp verliebt. Der ist ein liebevoll-ironisch als „einfacher, wenn auch ansprechender junger Mensch“ beschriebener reiner Tor. Unvoreingenommen will er eigentlich nur drei Wochen lang seinen Cousin in der Klinik besuchen, bleibt dann am Ende aber sieben Jahre.
Die alte Märchen- und Aberglaubenszahl zieht sich fast penetrant durch den Roman, bis hin zum Namen des Intellektuellen Settembrini, dem Castorp staunend zuhört. Früher hätte man ihn Weltverbesserer genannt, heute müsste er sich als „Gutmensch“ beschimpfen lassen. Auch er so plastisch wie sein erzreaktionärer, brillant-bösartiger Gegenpart Naphta. Wiederum ein krasses Gegenstück: die begriffstutzige, peinlich bildungsarme Frau Stöhr.
Wie viel Mühe sich Mann überhaupt mit den Namen gemacht hat! Adriatica von Mylendonk heißt die barsch-bärbeißige „Oberaufseherin dieses Schreckenspalastes“. Und der dröhnend-vitale Genussmensch Mynheer Peeperkorn vereint in sich Hallodri und Pfeffersack zugleich. Gerhart Hauptmann, der sich sogleich darin als Karikatur erkannte, beschwerte sich zwar beim gemeinsamen Verleger Samuel Fischer darüber, fühlte sich zugleich aber auch sehr geschmeichelt.
Dass die beiden Autoren sich ausgerechnet im Goethe-Jahr 1932 wieder versöhnten, ist doppelt symbolkräftig. Hauptmann fühlte sich, mit einiger Selbstüberschätzung, als Goethes Nachfolger – Thomas Mann aber war es – seit dem „Zauberberg“. Mit ihm trat er ein in die von Goethe erfundene „Weltliteratur“ (bis heute liegen allein fünf Übersetzungen ins Englische vor, in 26 weiteren Sprachen ist er auch zu lesen). Den Literaturnobelpreis bekam Mann 1929 zwar ausdrücklich für die „Buddenbrooks“, aber ohne den „Zauberberg“ wäre ihm dieser Ritterschlag wohl nie zuteilgeworden.
Im „Zauberberg“ geht es um alles: Liebe und Erotik, Krankheit und Tod, um die Zeit
In diesem Roman geht es um alles: Liebe und Erotik, Krankheit und Tod, Musik und Philosophie. Um die Wurzeln des Abendlandes und die Aufklärung, um den Kampf zwischen dem, was heute offene Gesellschaft heißt, und ihren Feinden. Und nicht zuletzt um: Zeit. Ursprünglich wollte Mann nur eine Novelle schreiben, als er 1912 seine Frau Katia im Lungenheil-Sanatorium besucht hatte und tief beeindruckt von dieser so ganz anderen Welt nach München zurückgekehrt war.
Die so ganz andere Zeiterfahrung im Wald-Sanatorium aber geriet zur Roman-Struktur: Die erste Hälfte des Romans beschreibt die ersten sieben Monate Hans Castorps dort, während sich die restlichen sechs Jahre auf die zweite Hälfte verteilen. Und die vielleicht dramatischsten Momente im Leben des jungen Ingenieurs blendet das Buch gar aus: Auf den letzten Seiten verlieren wir ihn, ohne sein weiteres Schicksal zu erfahren, auf den entsetzlichen Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs aus den Augen, „diesem Weltfest des Todes“, das auch Thomas Mann vom kriegsbegeisterten Nationalschwurbler zum wetterfesten Demokraten werden ließ.
„Der Zauberberg“: Portwein lässt Hans Castorp im berühmten „Schnee“-Kapitel einschlafen
Wer den Kern dieses Romans kennenlernen möchte, kann das vielleicht am besten im berühmten „Schnee“-Kapitel: Hans Castorp wird bei einem Ski-Ausflug ins Hochgebirge von einem Schneesturm überrascht, findet Schutz an einem Heuschober und gerät und nach einigen Schlucken Portwein ins Träumen, erst fiebrig, dann mit klaren Gedanken. Hier kommt Thomas Mann von seinem einstigen „Entweder – Oder“ ins „Sowohl als auch“, ins Geltenlassen, zu der Erkenntnis, dass die Wahrheit kein Schatz ist, den man finden und behalten kann, sondern etwas, das immer wieder neu errungen werden muss, weil sie aus 1001 Perspektive besteht.
Die Wiederkehr der im „Zauberberg“ so heftig umschwärmten Maria-Mancini-Zigarre
Mit diesem Roman war Thomas Mann, der mit den „Buddenbrooks“ den letzten Roman des langen 19. Jahrhunderts geschrieben hatte, auf der Höhe der Zeit – und hatte, passend zum Kern-Begriff des Buches, doch einen zeitlosen Roman für die Ewigkeit geschrieben. Mit Folgen bis in unsere Gegenwart: Die von Hans Castorp so heftig beschwärmte Zigarrensorte Maria Mancini (nicht nur die Lieblings-Zigarre von Thomas Mann, sondern auch die von Sigmund Freud), die seit den 40er-Jahren nicht mehr hergestellt wurde, ist seit 2022 dank der Firma August Schröder im westfälischen Bünde wieder auf dem Markt. Die Variante „Magic Mountain“, wie die englischen „Zauberberg“-Ausgaben heißen, ist ab 7,20 Euro das Stück zu haben.